documenta im Kasseler Osten: Zwischen Voodoo-Kirche und Wüstenzelt

Die documenta fifteen hat mit dem Kasseler Osten einen unterrepräsentierten Teil der Stadt erschlossen. Wir waren in Bettenhausen unterwegs.
Kassel – Tankstelle, Kfz-Reparaturbetriebe, vor sich hin bröckelnde Industriedenkmale mit teils malerischer, teils aber einfach verrotteter Anmutung. Der Kasseler Osten rund um die Sandershäuser Straße wirkt städtebaulich wie im Abseits. Die documenta fifteen erobert hier neues Terrain für die Kunst. Und ermöglicht Entdeckungsreisen zwischen Neon-Madonna, Demo-Nostalgie und afrikanischer Teezeremonie.
Wer vom Platz der Deutschen Einheit aufbricht, hat mit dem Hallenbad Ost, der Kirche St. Kunigundis, dem Sandershaus an der Haferkakaofabrik und dem großen Hübner-Areal vier lohnende documenta-Standorte vor sich. Allen gemein ist die durchdachte Inszenierung der Räume, die sowohl beim zügigen Durchschreiten ein lohnendes Erlebnis bietet, als auch bei der profunderen Erkundung. Ein erster Überblick.
Hallenbad Ost
Unter blühenden Linden empfangen Pappkameraden des indonesichen Kollektivs Taring Padi die Besucher. Hunderte Figuren und Embleme stecken auf Holzstäben in der Wiese – Motive wie Geldsack auf Totenköpfen oder Kirche neben Moschee mit einem brüderlichen Händedruck sind am intensivsten beim Hindurchlaufen zu erleben. Diese comicartige Darstellung setzt sich im Hallenbad fort. Hinter einer Wand mit Erklärungen offnet sich das ehemalige Schwimmbecken mit riesigen Bildern von Protestaktionen in zeichnerischem Retrostil. Sehr plakativ, aber ästhetisch eindrucksvoll wird auf eine Solidaritätsbewegung verwiesen.
Sandershaus
Das Hostel mit Flüchtlingsunterkunft wird unter anderem zur Begegnungsstätte zum Thema Geflüchtete gemeinsam mit dem dänischen Trampoline House.

St. Kunigundis
Aus Haiti kommen die Künstler des Kollektivs Atis Resistans und der Ghetto Biennale, die die Kirche und den Kirchhof von St. Kunigundis bespielen. Metallene Skulpturen, morbide Skelettmadonnen im Hochzeitstüll, Porträts kreolischer Persönlichkeiten und neonbunte Votivkerzen verwandeln den Raum in eine punkig-schräge Unterground-Location voll vibrierender Energie.
Hübner-Areal
Groß, verwinkelt, rauher Industriecharme: Die Fabrikhallen von Hübner sind als Entdeckungsparcours gestaltet. Hinweisschilder sind rar, so ist es wichtig, nicht das Ober- und das Untergeschoss zu verpassen – und nicht den hintersten Raum mit den berührenden raumhohen Video-Screens der Philippinin Kiri Dalena, die wartende, schlafende, sich unterhaltende Menschen angesichts der Ausnahmesituation der Corona-Pandemie zeigt.

Abgefahrene TV-Soaps hat das kantonesische Kollektiv BOLOHO gedreht, die in der einstigen Kantine bei chinesischer Buffetverpflegung betrachtet werden können.
Wer Glück hat, erlebt den festlichen Klang der westafrikanischen Harfenlaute Kora im Raum der Fondation Festival sur le Niger, die ein Wüstenzelt, aber auch traditionelle Marionetten ausstellt und in ihr „Bulon“, ihren Raum für Zusammenkünfte, einlädt. Das Untergeschoss bespielt Amol K Patil zur Kultur der Wanderarbeiter in seiner Heimat Mumbai. Beim genauen Hinsehen fällt auf, dass sich die Erde in den großen Behältern sanft bewegt.