Rückblick: documenta 3 in Kassel (1964) – Als die Bilder den Raum eroberten

Pläne für eine Ausstellung auf Schloss Wilhelmshöhe scheiterten. Die documenta 3 in Kassel stand auf der Kippe. Sonderausstellungen und Kunst im Raum retteten die Schau jedoch.
Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Heute: die dritte documenta in Kassel im Jahr 1964.
Das Fridericianum war nach der zweiten documenta 1959 wieder die „leere, kalte Ruine“ von zuvor, erzählt Lorenz Dombois, der von der documenta 2 bis zur documenta 5 in Kassel tätig war, im Ausstellungskatalog „Politik und Kunst“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin: „Es zogen die Tauben wieder ein, nach ‘59. Keine Beleuchtung, keine Bewachung!“ So habe Arnold Bode wieder bei Null angefangen.
Doch keine documenta ohne Konflikte. Die dritte stand ganz auf der Kippe. Der Erfinder der documenta wollte diesmal Kunst auf der Wilhelmshöhe zeigen. Der Wiederaufbau des zerstörten Schlosses allerdings verzögerte sich. Um das Konzept gab es Streit: Der Arbeitstitel „Meisterwerke aus den letzten 50 Jahren“ überzeugte nicht, die hatte das Publikum ja schon 1955 und 1959 gesehen. Im Frühjahr 1962 wurde die Ausstellung um ein Jahr verschoben: auf 1964.
Zahlen zur documenta 3
Die dritte documenta fand vom 28. Juni bis 6. Oktober 1964 statt. 353 Künstler nahmen teil, 200.000 Besucher kamen. Erstmals war neben Fridericianum und Orangerie die heutige Neue Galerie Ausstellungsstandort. In der Staatlichen Werkkunstschule wurden die Abteilungen Grafik und Industrial Design gezeigt. Budget: 1,86 Millionen D-Mark.
Wandel der Kunst: Handzeichnungen retten Ruf der documenta 3 in Kassel
Als documenta-Theoretiker Werner Haftmann propagierte „Kunst ist, was bedeutende Künstler machen“, gab es gegen diese Devise ebenfalls Einwände. Junge deutsche Künstler klagten über Nichtberücksichtigung. Was den Ruf der in fünf „Abteilungen“ strukturierten documenta 3 rettete, war dann die Präsentation von 500 Handzeichnungen in der Neuen Galerie an der Schönen Aussicht (die damals noch Alte Galerie hieß). Von Cézanne und van Gogh bis zu Joseph Beuys, der erstmals in Kassel ausstellte, führten sie den Wandel der Kunst innerhalb von 80 Jahren vor Augen. Mit von innen beleuchteten Vitrinenkästen bewies Bode erneut die Gabe, Kunst ungewöhnlich zu inszenieren.
Mit anderen Abteilungen öffnete sich die documenta 3 noch stärker der Gegenwart. Unter dem Titel „Aspekte 1964“ wurden Anfänge der Pop-Art vorgestellt. Für die Schau „Licht und Bewegung“ zeichnete ausdrücklich allein Bode verantwortlich. Die kinetische Kunst eines Jean Tinguely oder des späteren Kasseler Professors Harry Kramer begeisterte. Viel beachtet war der Auftritt der kurzfristig eingeladenen Gruppe Zero, der Otto Piene, Heinz Mack (heute 91) und Günther Uecker (92) angehörten. Lichtkugeln, -scheiben sowie Rotoren und Projektoren waren in einem, wie Mack später schimpfte, „Dreckstall“, einem „archaischen, vergessenen Dachgeschoss im Fridericianum“ eingerichtet: „War alles sehr primitiv!“

In der Abteilung „Bild und Skulptur im Raum“ gab es ebenfalls völlig neuartige Seherlebnisse. Bode hatte, auch darin ein Pionier, erstmals eigens Kunst in Auftrag gegeben, er besprach mit den Künstlern die Art der Präsentation: Es wurden nicht nur Bilder gehängt, sondern Räume gebaut, um ihnen zu optimaler Wirkung zu verhelfen. Ernst Wilhelm Nay (dem die Hamburger Kunsthalle ab 25. März eine Retrospektive widmet) überredete er, drei nahezu vier mal vier Meter große Gemälde als Folge gestaffelt schräg unter die Decke zu hängen. 2009 waren Nays „Augenbilder“ genau so noch einmal in der Frankfurter Kunsthalle Schirn zu sehen.
documenta 3 in Kassel: „Alte Kategorien wurden hinfällig“
Die alten Kategorien wurden hinfällig, schreibt Dirk Schwarze in seiner documenta-Geschichte „Meilensteine“: „Skulptur und Bild kamen sich näher, vor allem die Gemälde sprengten den Rahmen und drangen in den Raum vor.“ Die expressiven Tafelbilder des Italieners Emilio Vedova waren „förmlich zersprengt“, standen oder hingen wie Fetzen oder Torsi in einem dunklen Kabinett. Für Sam Francis wurde eine sechseckige Wandkonstruktion geschaffen. Bilder gliederten oder versperrten den Raum. Heute würde man von Installationen sprechen. Der Niederländer Karel Appel malte noch in der Nacht vor der Eröffnung, weil eines seiner Gemälde auf dem Transport verschollen war.

Eine weitere Neuerung gab es beim „Museum der 100 Tage“ – ein Begriff, den Bode erstmals prägte: Das Land Hessen war jetzt an der Finanzierung beteiligt. Die Ausstellung, die – noch eine Premiere – parallel zur Venedig-Biennale stattfand und sich gegen diese Konkurrenz glänzend behauptete, wurde zur documenta GmbH. Sie war nun, so zog Lothar Orzechowski in unserer Zeitung Bilanz, „eine Institution, mit der nicht nur Kassel, sondern die ganze Welt rechnet“. (Mark-Christian von Busse)