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Rückblick: documenta 4 in Kassel (1968) – Pop-Art, Phallus und Proteste

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Von: Kirsten Ammermüller

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Nur ein Ausschnitt über zwei Etagen: Der „Fire Slide“ (1967) von James Rosenquist im Friedericianum.
Nur ein Ausschnitt über zwei Etagen: Der „Fire Slide“ (1967) von James Rosenquist im Friedericianum. (Archivfoto) ©  documenta Archiv/Horst Lengemann

Kritiker bemängelten das Fehlen zeitgenössischer, radikaler Strömungen. Die documenta 4 in Kassel bleibt jedoch durch den Ballon-Phallus von Christo und Jean-Claude in Erinnerung.

Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Heute: Die vierte documenta in Kassel im Jahr 1968.

„Grell, bunt, marktschreierisch und rotzfrech fiel die amerikanische Pop-Art über uns Bildungsbürger her“, schrieb Heinz Holtmann in einem Aufsatz über die vierte Ausgabe der documenta, um dann noch einmal auszuholen: „Zum ersten Mal erlebte ich, welch explosive Kraft die Kunst entwickeln kann.“

Doch das Urteil des Assistenten der Kunsthalle Kiel und späteren Gründungsdirektors des Mönchehaus Museums Goslar teilten 1968 nicht alle Zeitgenossen. Was für die einen explosiv war, ließ andere die Radikalität vermissen, die sich im Jahr massiver Studentenproteste Bahn brach. Wo blieben neben Pop-Art, Op-Art, Color Field Painting und Minimal Art die neuen Strömungen Fluxus, Environment und Happenings?

Zahlen zur documenta 4

Die documenta IV fand vom 27. Juni bis 6. Oktober 1968 statt. Es wurden 150 Künstler gezeigt, 207.000 Besucher kamen. Die Schau hatte ein Budget von 2,8 Mio. D-Mark. 

Arnold Bode wehrt sich: documenta 4 soll nicht zum Establishment zählen

Arnold Bode versuchte der Kritik entgegenzutreten, indem er im Vorwort des Katalogs bekundete: „Zum Establishment gehört auch diese documenta nicht.“ – Establishment, eine Bezeichnung, die das Bildungsbürgertum scheute, wie der Teufel das Weihwasser. Doch so leicht ließen sich die Kritiker nicht besänftigen.

Der documenta-Rat wurde auf seiner Pressekonferenz unfreiwillig Teil eines Happenings. Wolf Vostell warf Pfennige auf den Tisch und schüttete Honig darüber. So wollte er mit Jörg Immendorff und dessen Frau Chris Reinecke zum Ausdruck bringen, dass die documenta in kleiner Münze zahlte und zum Aufschlecken sei. Anschließend küsste Reinecke die Ratsmitglieder für ihre herzallerliebste Ausstellung – Bode wehrte sich.

Doch kam die documenta mit einem blauen Auge davon. Zwar musste Bode während der Eröffnungsrede dem Oberbürgermeister Karl Branner signalisieren, die Ansprache zu verkürzen, da Künstler die Stimmung unter den Zuhörern aufheizten. Weiterhin jedoch sorgte die Weltkunstausstellung mit ihren Künstlern für Schlagzeilen.

„5600 Kubikmeter Paket“: 85 Meter hoher Ballon wird Wahrzeichen der documenta 4

Dazu gehörte vor allem ein junger Künstler aus Bulgarien mit seiner Frau. Christo und Jean-Claude wollten in Kassel vor der weiterhin als Ruine belassenen Orangerie einen 85 Meter hohen Ballon mit zehn Metern Durchmesser aufblasen – „5600 Kubikmeter Paket“ hieß das Kunstwerk, das Luft enthielt. Würde das Experiment gelingen? Nach zwei gescheiterten Versuchen, die durch die phallische Form für entsprechenden Spott sorgten, richtete sich der Ballon schließlich auf und wurde zum Wahrzeichen der vierten documenta.

Verpackte Luft: Christo bringt das Kunstwerk „5600 Kubikmeter Paket“ noch zum Stehen.
Verpackte Luft: Christo bringt das Kunstwerk „5600 Kubikmeter Paket“ noch zum Stehen. © Privat

Die Pop-Art fand durch Künstler wie Andy Warhol, Tom Wesselmann, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg und James Rosenquist ihren prägenden Ausdruck. Letzterer überraschte mit einem über zwei Etagen reichenden Gemälde, das wie ein Ausschnitt wirkte und dessen imaginierte Vervollständigung schwindeln ließ: Zu sehen waren nur die Beine eines Feuerwehrmannes.

Einmal noch verzieh die Öffentlichkeit den documenta-Machern die Unterschlagung radikaler Strömungen. Gleichzeitig bilanziert der damalige HNA-Kunstkritiker Lothar Orzechowski: „Alles spricht dafür, dass mit der documenta 4 zugleich eine Epoche beendet wurde.“ Der fünften documenta gab Orzechowski auf den Weg: „Wenn die documenta 5 kommen will, dann wird sie nach der Lücke im Markt zu forschen haben. Dann wird sie guttun, sich darauf einzustellen, dass sie aus den Ruinen endgültig vertrieben ist.“ (Kirsten Ammermüller)

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