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Rückblick: documenta 9 in Kassel (1992) – Ausstellung der Emotionen

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Von: Mark-Christian von Busse

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Blieben Kassel auch nach der documenta 9 erhalten: „Die Fremden“ des Künstlers Thomas Schütte. (Archivbild)
Blieben Kassel auch nach der documenta 9 erhalten: „Die Fremden“ des Künstlers Thomas Schütte. (Archivbild) © Pia Malmus

Zwei Kunstwerke der documenta 9 prägen bis heute das Kasseler Stadtbild: „Die Fremden“ thronen am Friedrichsplatz und der Himmelsstürmer ragt vor dem Kulturbahnhof empor.

Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Heute: die neunte documenta in Kassel im Jahr 1992.

Dass sich jede documenta neu erfindet, und wie unterschiedlich Kuratoren an ihre Aufgabe herangehen, das ist immer wieder verblüffend.

2012 hielt Carolyn Christov-Bakargiev den Friedrichsplatz frei von Darstellungen des Menschen – stattdessen gab es dort einen Schmetterlingsgarten und einen tonnenschweren Eisenblock. 20 Jahre zuvor hatte der belgische Museumsdirektor Jan Hoet mit seiner documenta 9 den Menschen gerade in den Fokus gerückt – und das vor allem in seiner Körperlichkeit, der er auch in einer digital-virtuellen Welt letztlich nicht entrinnen kann.

Zahlen zur documenta 9

An der documenta 9 vom 13. Juni bis zum 20. September 1992 nahmen 195 Künstler teil. Sie stellten etwa 1000 Werke aus – erstmals auch in der documenta-Halle sowie in provisorischen Container-Bauten auf Stelzen in der Karlsaue. 616.000 Besucher wurden gezählt, das Budget betrug 18,645 Millionen D-Mark. 

documenta 9: Der Belgier Jan Hoet schuf ein populäres, sinnliches Ereignis

Auf dem Friedrichsplatz standen Thomas Schüttes „Die Fremden“ – von denen einige auf dem Portikus des Roten Palais verblieben sind – und Jonathan Borofskys „Man Walking to the Sky“ für diese „Wiederkehr der menschlichen Figur“, von der HNA-Kritiker Dirk Schwarze in seinem documenta-Buch schrieb. Borofskys „Himmelsstürmer“ war so beliebt, dass schnell der Wunsch aufkam, er könnte mithilfe einer Spenden- und Sammelaktion erworben werden. Heute hat er als ein Kasseler Wahrzeichen seinen Platz vor dem Kulturbahnhof.

Die Ausstellung als sinnlich erfahrbares Erlebnis: Der österreichische Künstler Flatz mit Dogge vor 90 Ledersäcken, an denen die Besucher nur mit Kraftaufwand vorbei kamen.
Die Ausstellung als sinnlich erfahrbares Erlebnis: Der österreichische Künstler Flatz mit Dogge vor 90 Ledersäcken, an denen die Besucher nur mit Kraftaufwand vorbei kamen. (Archivfoto) © dpa/picture-alliance/Uwe Zucchi/Belga Archives

Jan Hoet (1936–2014), der später als Gründungsdirektor das Museum Marta in Herford leitete, hatte seiner documenta 9 das rätselhafte Motto „Vom Körper zum Körper zu den Körpern“ gegeben. Der leidende Mensch als Gefangener seiner selbst – kein Kunstwerk drückte das so eindringlich aus wie Bruce Naumans aufwühlende Video-Installation „Anthro/Socio“ im Foyer des Fridericianums. Ein kahler Männerkopf, der sich, auf Bildschirmen sechsfach multipliziert, unablässig dreht – und vor dessen schmerzvoll klagenden Rufen „Help me, hurt me, Sociology, feed me, eat me, Anthropology“ es kein Entrinnen gibt. Auch die drastische Malerei von Marlene Dumas stellte die menschliche Gestalt in ihrer Verletzlichkeit in den Mittelpunkt – zurzeit stellt die 68-jährige Südafrikanerin prominent im Palazzo Grassi in Venedig aus.

Nachwendejahre: documenta 9 stand im Lichte der gegenseitigen Annäherung

Ebenso sind aber die Zuversicht verheißenden Werke in Erinnerung geblieben – wie eben der „Himmelsstürmer“, bei dem man stets lieber das Symbol eines zielstrebigen Aufstiegs sieht als einen seinem Absturz entgegen eilenden Mann. Borofskys 25 Meter langes Stahlrohr, Neigungswinkel 63 Grad, kann als ein perfektes Sinnbild für die Nachwendejahre dienen. Viele Illusionen von Anfang der 90er-Jahre haben sich zerschlagen. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass 1991, als die documenta zum 24-stündigen Gesprächsmarathon nach Weimar einlud, unter dem Ausstellungssignet mit den beiden Schwänen eine sowjetische Militärkapelle aufspielte und fröhlich geschunkelt wurde.

Das Wahrzeichen der dIX: Jonathan Borofskys „Man Walking to the Sky“ im August 1992 auf dem Friedrichsplatz.
Das Wahrzeichen der dIX: Jonathan Borofskys „Man Walking to the Sky“ im August 1992 auf dem Friedrichsplatz. (Archivfoto) © picture-alliance / akg-images/Thomas Schelper

Auch der „Signalturm der Hoffnung“, den Mo Edoga in 100 Tagen aus Schwemmholz errichtete, war solch ein optimistisches Werk. Der nigerianische Arzt und Künstler (1952–2014) war permanent in der Ausstellung präsent, wie auch der charismatische Künstlerische Leiter mit seiner schier unerschöpflichen Energie. Marianne Heinz, damals Leiterin der Neuen Galerie, erinnert sich fasziniert daran, dass Hoet mit einer Putzfrau genauso sprach wie mit der dänischen Königin.

Er sprach mit einer Putzfrau genauso wie mit einem Prinzen: Der belgische Kurator Jan Hoet (von links) am 25. Juni 1992 vor dem Fridericianum mit Philippe, seit 2013 König der Belgier.
Er sprach mit einer Putzfrau genauso wie mit einem Prinzen: Der belgische Kurator Jan Hoet (von links) am 25. Juni 1992 vor dem Fridericianum mit Philippe, seit 2013 König der Belgier. © Belga Archives

In Heinz’ Museum setzten sich Künstler mit der Sammlung auseinander, sie kommentierten Gemälde und Skulpturen. Zoe Leonard hängte Vagina-Fotos anstelle der Tischbeins, Joseph Kosuth verbarg Bilder und Objekte in den seitlichen Gängen für sein textlastiges „Passagen-Werk“ mit Tüchern. Im Zwehrenturm richtete Jan Hoet ein „kollektives Gedächtnis“ der documenta ein.

Überbordende Kraft der Kunst: Kurator Jan Hoet schafft die wohl populärste documenta

Zu den in Kassel verbliebenen Kunstwerken zählten neben Per Kirkebys Backstein-Raumskulptur am Staatstheater auch zwei – nie offiziell übergebene – zerschnittene Steine des 2021 gestorbenen Cherokee-Künstlers Jimmie Durham, die dieser erneut bei der documenta 13 in Kassel ausstellte, dann aber wieder mitnahm.

Jan Hoet setzte auf die überbordende Kraft der Kunst. Und er konnte alle Register ziehen. Die Orangerie war inzwischen zwar als Museum für Astronomie und Technikgeschichte eingerichtet worden, aber ihm stand die neue documenta-Halle mit ihren üppigen Dimensionen zur Verfügung, erstmals wurden temporäre Aue-Pavillons errichtet. Dirk Schwarze nannte die dIX, die bis dahin ausuferndste und wohl auch populärste, eine „Ausstellung der Emotionen“. Manche Kritiker nahmen Hoet dieses sinnlich erfahrbare Spektakel – bis hin zu Boxveranstaltungen – übel, klagten über den Zirkus, den Rummel, Konzeptlosigkeit und Kommerz. Viele starke Kunstwerke und ein Besucherrekord allerdings gaben ihm recht. (Mark-Christian von Busse)

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