documenta fifteen: Resonanz der Medien auf die Ausstellung ist riesig

Die großen deutschen Zeitungen haben am Wochenende die documenta fifteen vorgestellt. Das Fazit ist überwiegend positiv.
Kassel – „32 Standorte! Eine Woche in Kassel würde nicht ausreichen, um alles zu entdecken“, stöhnt die „Frankfurter Allgemeine“. Dennoch haben die großen Zeitungen am Wochenende in üppigen Besprechungen die documenta fifteen vorgestellt. Und das Fazit fällt – vor allem verglichen mit den Vorgänger-Ausstellungen – positiv aus. Eine Übersicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Um gleich bei der FAZ zu bleiben: „Kommunikative Gemeinschaft und Prozesse, nicht notwendigerweise Ergebnisse“, sieht Stefan Trinks als roten documenta-Faden. So gut wie alles sei „gebastelt, soll nicht perfekt wirken, darf Zwischenzustände zeigen und will erklärtermaßen den Anspruch brechen, hohe und vermarktbare Kunst sein zu müssen“. Das führe an manchen Stellen zu Waldorfschulen-Ästhetik, dennoch hätten die Künstlerischen Leiter von Ruangrupa Ethnokitsch und Volkskunstliches größtenteils vermieden.
Trinks attestiert der d15 eine „traurig stimmende Schlagseite“, weil diese „durch und durch politische und radikal erneuerte Weltkunstausstellung“ mit Recht fordere, die gesamte Welt abzubilden, aber einen blinden Fleck habe, weil sie – an erster Stelle im Hinblick auf den palästinensisch-israelischen Konflikt – allein die Sichtweise des globalen Südens zu Wort kommen lasse, nicht die Gegenseite. Und doch: Die Positionen der 1500 assoziierten Künstler seien „unbedingt hörens- und sehenswert“.
taz Tageszeitung
Kriitischer äußert sich Sophie Jung in der „taz“. In den „Guernica Gaza“-Bildern von Mohammed Al Jawajiri, in denen israelische Soldaten unschuldig schlummernde Bauern angriffen, erkennt sie „giftige Parallelen, die kaum mit der Phrase von der ,Freiheit der Kunst‘ zu legitimieren sind“: die Gleichsetzung der „Legion Condor“ des NS-Regimes mit Israels Armee.
Das Urteil der „taz“: „Seltsam, wie hier vieles postkolonial zusammengemixt wird. Man taucht kurz ein auf dieser documenta, in die Behauptungen der verschiedenen Kollektive, doch bleibt vieles bruchstückhaft und unvermittelt. Letztlich sind es wohl die wenigen klassisch ausgearbeiteten Kunstinstallationen, die tatsächlich etwas bewirken und erzählen können.“
Die Zeit
„Nie waren Kunst und Leben einander näher“, schreibt Hanno Rauterberg in der „Zeit“ unter der Überschrift „Liebe Leute, werdet Freunde!“. Er beschreibt, dass Ruangrupa den westlichen Kunstmarkt als sinnleeres Spektakel betrachte. „Die Kuratoren wollen, so muss man es sehen, die documenta kompostieren: sie auflösen und in etwas verwandeln, das sie für viel fruchtbarer, viel nachhaltiger halten als das, was sonst unter Kunst verstanden wird.
Make friends, not art!, ruft uns Ruangrupa zu. Das klingt kokett, ist jedoch ganz schön ernst gemeint: Eine documenta der globalen Verschwisterung, darum geht es.“ Und das ohne Missionierungsdrang, ohne den Druck, alles gesehen haben zu müssen auf dieser wildwüchsigen, aber auf spielerische Weise lösungsbewussten documenta.
„Den Ruangrupa-Leuten liegt nichts ferner als Hass und Hetze“, hält Rauterberg mit Blick auf die Antisemitismus-Debatte fest. Nichts, was zu sehen sei, sei von „irgendeinem Vernichtungswillen bestimmt. Das oberste Ziel heißt Einvernehmlichkeit.“
Frankfurter Rundschau
Das Kollektiv ist alles, das Ego spielt eine Nebenrolle – das arbeitet Sandra Danicke in der „FR“ als ein Merkmal der d15 heraus. Deshalb sei Hito Steyerl als Star der Kunstwelt im Vorhinein gar nicht angekündigt gewesen. Deren Filminstallation im Ottoneum beschreibt sie als einen Höhepunkt – „so abgedreht, faszinierend und überfordernd, dass man völlig beseelt hinaus geht“. Generell zelebriere und erweitere die Ausstellung die fließenden Übergänge zwischen bildender Kunst, Wissenschaften, gesellschaftlichem Engagement und angewandter Praxis. Eine geballte Informationsflut, die man nur Stück für Stück aufnehmen könne.
Die Welt
„Man kann mit der Kunst, die sich fast immer außerhalb des etablierten Koordinatensystems von Museen, Universitäten und Galerien bewegt, oft nur wenig anfangen, aber die Menschen sind supernett“, urteilte Boris Pofalla am Freitag in der „Welt“: „Es ist eine documenta des Zusammensitzens und sich Befreundens, keine Theorie-documenta.“ Publikum, Kunstbetrieb und Medien seien so geübt darin, das Format documenta wichtig zu finden, dass Ruangrupa es jetzt von innen aushöhlen könne.
Welt am Sonntag
„Ist die documenta noch eine Kunstausstellung oder schon eine politische Kundgebung?“, fragt Swantje Karich. „Im Speicher der Ungerechtigkeit“ ist ihre Besprechung betitelt: „Wer sich auf die Reise in Ruangrupas vollgepackte Vorratskammer, ihr ,Lumbung‘ für Reisscheune, einlassen will, sollte Zeit, keine Erwartungen und gute Nerven mitbringen für die 32 Stationen.“
Die Sorge vor zu viel aggressiver Politik sei mehr oder weniger verpufft, es dominierten anarchisches Chaos, schwimmende Gärten und handgeschriebene Manifeste. Sie sieht überall die Solidarität mit marginalisierten Gruppen, die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters fehle völlig.
„Kassel wird, so viel ist sicher, von Lumbung geflutet werden“, befürchtet Karich. Sie beschreibt eine „esoterische Schicksalsgemeinschaft“, die Kassel mit guter Laune aufmischen wird, „ganz im Sinne von: Bleibt nicht allein, organisiert euch in kleinen Gruppen, seid euch einig im Kampf gegen den postkolonialen Kapitalismus, feiert schön, habt euch lieb.“ Agitprop, Musiksessions, Sit-ins und Diskursgruppen seien aber weder revolutionär noch neu.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ hat den Streit um die documenta auf die Titelseite gehoben. Niklas Maak geht umfassend auf die Antisemitismus-Debatte ein: „Die Verletzungen sitzen tief, die Positionen sind unversöhnt.“ Die documenta wolle sich der Welt öffnen, „ihrer Kunst und den politischen Konflikten, die sie verhandelt – und erschrickt, wenn sichtbar wird, wie es dort aussieht.“
Maak schildert, dass die Kunstwelt in zwei Teile zerfällt: einerseits die glitzernden Skulpturen eines Jeff Koons, die immer neue Rekordpreise erzielen. „Neben dieser Messekunst, die vor allem überdimensionierte Riesenklunker hervorbringt, gibt es auf vielen Biennalen eine aktivistische Kunst, die wie Ruangrupa direkt in soziale Realitäten eingreifen will. Die Rückkopplungen mit der Welt der Politik sind oft heftig.“
Im Feuilleton beschreibt Maak Entdeckungen, für die allein sich der Besuch in Kassel lohne – wie die Exponate im Fridericianum, die aus der Kultur der Roma stammen. Vieles wirke aber eher hektisch zusammengeschmissen statt kuratiert, was manchmal ein bisschen traurig und manchmal sympathisch sei. Den Absolventen „von Curatorial Studies und ihrem Glauben an die ,präzise‘ (Lieblingsmodewort) Inszenierung“ dürfte es „den Angstschweiß auf die Stirn treiben“. Die Worte Nongkrong und Lumbung seien „auf jeden Fall schon einmal eine Bereicherung der deutschen Sprache, die von dieser documenta bleiben wird“.

Süddeutsche Zeitung
Kunstkritikerin Catrin Lorch hat in der Freitagsausgabe die d15 als „die vielleicht bildhaltigste und bunteste Ausgabe seit Langem“ beschrieben – die an manchen Stellen aber auch kitschig, grell, plakativ und plagiatorisch sei. Der Titel ihres Artikels: „Sichtbarmachen statt ausstellen“. Dieses Konzept und die flache, konsequent antihierarchische Struktur führten dazu, dass auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstler selbst erfahrbar würden.
Am Wochenende hat die „SZ“ der d15 noch einmal eine Doppelseite gewidmet. Ausgestellt seien, so schreibt Jörg Häntzschel, nicht „beklagenswerte Beispiele menschlichen Leids, sondern Strategien und Verfahren, diese zu überwinden – durch Versuche, anders zu denken, zu arbeiten und zu leben“. Lokale Konflikte würden deshalb viel Raum einnehmen, nicht die großen Fragen – Russland, China, Digitalisierung.
Sein Fazit: „Nein, nicht alles, was an Kunst auf der documenta zu sehen ist, überzeugt. Aber wer wären wir denn auch, das jeweils zu bewerten? Und wen interessiert es? Die documenta ist ein großes Meta-Kunstwerk, eine selten zuvor dagewesene Verdichtung von Erfahrung, von Gegenwart, von Welt. Und als Versuch, einen schier unendlich großen Schatz von Möglichkeiten vorzustellen, wie eine bessere Organisation von Gesellschaft, von Leben und Arbeit aussehen könnte.
Jenseits der großen Ideologiegebäude westlicher Provenienz, jenseits ihrer inhärenten Brutalität. Ohne Gewalt, Hass, Missgunst. Sondern mit einer Sanftheit, Offenheit und Menschlichkeit, die naiv abzutun ein trauriger Fehler wäre. Wer weiß, was die Geschichte bringt. Wie lange der Westen noch den Ton angibt. Die Verfahren, die die documenta und die Künstler entwickelt haben, wir werden sie noch brauchen.“