Die gestern bekannt gegebenen Künstlergruppen dürften in der Kunstszene für viele Fragezeichen sorgen. Ein Name aber sticht heraus: Der Künstler und Cherokee-Aktivist Jimmie Durham hat bereits an der documenta 9 und 13 teilgenommen.
Am Freitagmorgen vor dem Ruruhaus war es Verkäufer Stefan, dem Journalisten erste Exemplare förmlich aus den Händen rissen. Der 56-Jährige verkauft die Straßenzeitung seit neuneinhalb Jahren. 2017 hatte er selbst bei der documenta gearbeitet, im Kassenbüro im Fridericianum. „Das ist für mich ein Déjà-vu“, sagte er angesichts der Neugier der Medien.
Die Straßenzeitung „Asphalt“ nennt sich selbst „Hilfe zur Selbsthilfe“-Einrichtung. Die Verkäufer, viele von ihnen wohnungslos, verkaufen das Heft für 2,50 Euro. Sie erhalten die Hälfte, also 1,25 Euro, selbst. Die Auflage beträgt 27.000 Exemplare. Verteilt wird das Blatt in ganz Niedersachsen und in Kassel. Sitz der gemeinnützigen Vertrags- und Vertriebsgesellschaft ist Hannover. Dem Herausgebergremium gehört auch die frühere Bischöfin Margot Käßmann an.
Als sich die documenta meldete, um eine Kooperation vorzuschlagen, war das für Volker Macke ein „Zeichen der Wertschätzung, des Respekts“. Der Chefredakteur der Straßenzeitung „Asphalt“, in der eine erste umfangreiche Künstlerliste der documenta fifteen veröffentlicht ist, sagt, die Ausstellung und sein Monatsmagazin teilten „die Idee der Solidarität“ und die Vorstellung des „journalistischen Teilens“.
„Eine natürliche Verbindung – quasi“, schreibt er im Vorwort, weil das Blatt wie die documenta 15 lokal verortet und zugleich überregional vernetzt seien. „Asphalt“ ist Mitglied des International Network of Street Papers (INSP).
Tatsächlich durchzieht die Idee des Teilens die neun Seiten, die die Oktober-Ausgabe von „Asphalt“ der Ruangrupa und der d15 widmet. Zwischen einem Beitrag über eine Umfrage unter wohnungslosen Hannoveranern, einem Interview mit der Rockband Die Ärzte und einem Kimchi-Sauerkraut-Rezept wird erläutert, dass beim Lumbung-Prinzip Aktivismus, lokale Selbstverwaltung und Kunst zusammenkommen.
Ressourcen würden in einen gemeinsamen Pool eingebracht: „Arbeitskraft, Zeit, Raum, Essen, Geld, Wissen, Fähigkeiten, Fürsorge und Kunst.“ Der achte und letzte Lumbung-Wert, nach Begriffen wie Genügsamkeit und Unabhängigkeit, wird heute, 14.30 Uhr, in der Reihe „Lumbung Calling“ auf Youtube und Facebook thematisiert.
Die Liste der Künstler sei noch nicht vollständig, sagten die Ruangrupa-Mitglieder gestern beim Pressetermin am Ruruhaus. Ihre Zusammenarbeit läuft „in Kollektiven, die aus Kollektiven bestehen“, wie sie es in „Asphalt“ schildern. Die bestehen natürlich wiederum aus einzelnen Künstlern. Wer genau 2022 in Kassel was ausstellen wird – dieser Prozess ist also nicht abgeschlossen. Trotzdem war gestern, wie Iswanto Hartono sagte, für viele Künstler, deren documenta-Beteiligung bekannt wurde, mehr noch als für Ruangrupa selbst ein großer Tag.
Ruangrupa nennt die Zusammenkünfte der Beteiligten an der documenta fifteen „Majelis“ (indonesisch Versammlung). Vor der Pandemie sei geplant gewesen, zur Vorbereitung regelmäßige „Majelis“ in größeren und kleineren Gruppen abzuhalten. Coronabedingt finden nun „Mini-Majelis“ für die Künstler und regelmäßige digitale Treffen mit den schon länger bekannten 14 „Lumbung-Mitgliedern“ von Kuba über Kopenhagen bis Kolumbien statt. Sie bilden gewissermaßen das Netzwerk, auf dem die d15 beruht.
„Innerhalb dieser Mini-Majelis lernten die Beteiligten einander durch Projekte, Ressourcenteilung und gemeinsame Entscheidungsfindung besser kennen“, heißt es im Straßenmagazin „Asphalt“. Die Zusammenarbeit sei in der Praxis bereits erprobt worden. Produktionsbudgets und Fördergelder seien gleichmäßig unter den Künstlern verteilt worden. Jede Majelis-Gruppe bekam auch ein Budget, über dessen Verwendung sie gemeinsam entscheidet. Vorgestellt wird in der „Asphalt“-Ausgabe die Majelis-Struktur mit den jeweiligen Zeitzonen – weil das für die digitalen Verabredungen entscheidend ist.
Verschiedene künstlerische Leiter haben sich für unterschiedliche Schreibweisen ihrer Ausstellung entschieden, so etwa Catherine David 1997 für documenta X. Bei Okwui Enwezor fünf Jahre später wurde ohne Leerschlag großgeschrieben: Documenta11. Noch komplizierter war es bei Carolyn Christov-Bakargiev 2012. Offizielle Schreibweise: dOCUMENTA (13). Ruangrupa hält es da vergleichsweise simpel – mit documenta fifteen. Kurz und knapp: d15. (Mark-Christian von Busse)