Rückblick: documenta 1 in Kassel (1955) – Arnold Bode und seine kühne Inszenierung

Zu wenige US-Künstler, gar keine jüdischen: Rückblickend hatte die erste documenta im Jahr 1955 starke Defizite. Arnold Bode begründete damit dennoch die Weltkunstausstellung in Kassel.
Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Zum Auftakt: Die erste documenta in Kassel 1955.
„Ein gewaltiges, übergewaltiges Erlebnis!!!“, schreibt Hans Jürgen von der Wense, Komponist, Übersetzer, Extremwanderer, Privatgelehrter, am 27. Juli 1955 im Brief an eine Freundin über die „phänomenale Ausstellung Documenta“ in seiner ehemaligen Wahlheimat Kassel: „Komm sofort!! Du musst es sehen.“
Nun muss man bei Wenses oft so ekstatischem Jubel stets vorsichtig sein – und der Kasseler documenta-Historiker Harald Kimpel hat seine Äußerungen dem entsprechenden Faktencheck unterzogen. Aber der Enthusiasmus, der in Wenses Briefen zum Ausdruck kommt, ist charakteristisch: Die erste documenta 1955 mit den Werken eines Picasso, Kandinsky, Beckmann, Mondrian, Matisse oder Klee bedeutete für viele, gerade junge Besucher eine überwältigende, lebensprägende Erfahrung.
Erste documenta 1955: Zahlreiche NSDAP-Mitglieder in Planung eingebunden
Die Ursprünge der documenta sind in den vergangenen Jahren einer kritischen Neubewertung unterzogen worden. Viel dazu beigetragen hat eine große Ausstellung zur Geschichte der documenta im Jahr 2021 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin.
Nur zwei Aspekte seien genannt: Im Verein „Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts“, der die documenta verantwortete, saßen zahlreiche ehemalige NSDAP-Mitglieder – das hat die Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin Mirl Redmann herausgearbeitet. Dem „Cheftheoretiker“ der ersten Ausstellungen, Werner Haftmann, wird die Verfolgung von Partisanen in Italien, bis hin zur Beteiligung an Folter, vorgeworfen. Der Historiker Carlo Gentile hat dafür Belege vorgelegt. Wobei im Falle Haftmanns das letzte Wort noch nicht gesprochen scheint.
Lothar Sickel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) in Rom, hat die Perspektive jüngst umgedreht. Er fragte in einem Aufsatz in der „FAZ“: „Lässt sich weiter behaupten, Haftmanns Hinwendung zur Moderne sei als Camouflage einer fortdauernd braunen Gesinnung aufzufassen – oder war nicht eher die Wehrmachtsuniform seine Tarnung?“ Die historische Wirklichkeit sei weit facettenreicher gewesen, als sie derzeit gesehen werde, so sein Urteil.
Zahlen zur documenta 1
Die erste documenta fand vom 16. Juli bis 18. September 1955 ausschließlich im Fridericianum statt. Kunsthistoriker Walter Grasskamp kommt bei der Herkunft der 148 Künstler auf 14 Nationen (die Spanier Picasso und Miró etwa wurden als Franzosen geführt). Zahl der Werke: 670. Besucher: 130.000. Budget: 379.000 D-Mark. Zuschüsse: 200.000 D-Mark.
documenta 1 sollte keinen Nachholbedarf befriedigen: Schau konzentrierte sich auf Nachkriegszeit
Dass auch die Rolle von Arnold Bode, Erfinder und Motor der documenta, ins Zwielicht gerückt wurde, empörte documenta-Kenner. Der Sozialdemokrat war 1933 aus dem Amt als Vizedirektor des Werklehrer-Seminars in Berlin entlassen und als Künstler mit Berufsverbot belegt worden. Bei seiner Initiative, im Beiprogramm der Bundesgartenschau in Kassel „die Wurzeln des gegenwärtigen Kunstschaffens auf allen Gebieten sichtbar zu machen“, wie er im Exposé schrieb, konnte er auf Erfahrungen als Organisator von Avantgarde-Großausstellungen Ende der 1920er-Jahre in der Kasseler Orangerie zurückgreifen.
Sein Ziel war nicht, einen Nachholbedarf zu befriedigen, nämlich die von den Nationalsozialisten als „entartet“ verfemte Kunst nach 20-jähriger Pause wieder auszustellen. Darauf hat der ehemalige HNA-Kulturressortleiter und documenta-Kenner Dirk Schwarze immer wieder hingewiesen: Der Schwerpunkt der ausgestellten Werke lag in der Nachkriegszeit, vieles war erst nach 1945 entstanden. Der Überblick gipfelte in der Abstraktion gewissermaßen als logischem Endpunkt: „Die Ausstellung sollte nur Meister zeigen, deren Bedeutung für die Gegenwart nach strengster Auswahl unbestreitbar ist“, hieß es in Bodes Konzeptpapier.
documenta-Experten: Es fehlten bedeutende jüdische Vertreter der Moderne
Die Kuratoren des DHM haben insbesondere Defizite der ersten documenta hervorgehoben: das Fehlen bedeutender jüdischer Vertreter der Moderne – zu sehen waren indes Gemälde von Marc Chagall –, der Verzicht auf die provozierend-politische Kunst eines John Heartfield oder George Grosz. Von der winzigen Zahl von Künstlerinnen ganz zu schweigen.
Wie „grotesk unausgewogen“ die Künstlerauswahl gewesen ist, war aber keine Neuigkeit – das hatte vor Jahren schon der Kunsthistoriker Walter Grasskamp aufgeschlüsselt. Er konstatierte eine deutliche deutsch-italienische Vorherrschaft. Nur drei US-Amerikaner nahmen 1955 an der documenta teil.

Eine überaus große Leistung Bodes wird darüber leicht vergessen. Sie bestand in der wegweisenden Inszenierung der Gemälde, in der raffinierten Lichtregie im nur notdürftig wiederhergestellten Fridericianum. Als Ausstellungsgestalter löste er sich von musealen Vorbildern. Die unverputzten, weiß gekalkten Mauern der Ruine boten eine Aufsehen erregende Kulisse für die Exponate, die mithilfe von Eisenstangen in den Raum gestellt oder vor lichtdurchlässige Vorhänge „unerhört kühn gehängt“ waren, wie es Hans Jürgen von der Wense notierte.
Ursprünglich hatte der umtriebige Bode vor, auch die „Schwesterkünste“ wie Film, Musik, Theater, „Industrieform“ und „neues Wohnen“ in Kassel, diesem Vorposten der westlichen, „freien“ Kunst, zu präsentieren. Wenn die 15. Auflage der documenta, eine Zahl, die sich 1955 niemand hätte vorstellen können, ab 18. Juni geradezu Festivalcharakter haben wird, und wenn auf der documenta womöglich indonesisch gekocht werden wird, dann wäre das womöglich genau in Arnold Bodes Sinn. (Mark-Christian von Busse)