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Ein Teppich als documenta-Kunstwerk und Gemeinschaftsprojekt

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Von: Katja Rudolph

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Die Kunsthochschulstudentinnen Veronika Cerkesa (links) und Olivia Berke zeigen einen Teil des Teppichs.
Bunt und vielfältig: Die Kunsthochschulstudentinnen Veronika Cerkesa (links) und Olivia Berke zeigen einen Teil des Teppichs, der aus vielen unterschiedlichen Versatzstücken zusammengefügt wird. © Andreas Fischer

In Kirche am Wesertor entsteht ein gemeinschaftliches documenta-Kunstwerk. Nachbarn und Gemeindemitglieder knüpfen hier gemeinsam einen Teppich.

Kassel – Auf einem Tisch im Hof der Neuen Brüderkirche türmen sich bunte Stoffreste. Es ist der Stoff, aus dem documenta-Kunst entsteht. Seit Monaten wird an der evangelischen Gemeinde am Wesertor in wöchentlichen Treffen an einem Teppich gearbeitet. Schon der Prozess der Herstellung ist dabei Teil der künstlerischen Idee: Ein gemeinschaftliches Werk, das im übertragenen Sinn eine Basis für unser Zusammenleben darstellt.

Im vergangenen Sommer war documenta-Künstler Reinaart Vanhoe (Rotterdam) auf die Gemeinde zugekommen, die auch viel Sozialarbeit und Geflüchtetenhilfe im Stadtteil leistet. Außer der Einladung, einen „Schrein“ zu gestalten, machte er der Gruppe keine Vorgaben.

Flechten: Enoch Debrah aus Ghana spricht die Idee hinter dem Projekt an.
Flechten: Enoch Debrah aus Ghana spricht die Idee hinter dem Projekt an. © Andreas Fischer

Doch was ist gemeint mit einem Schrein, war die große Frage? Letztlich handele es sich um „einen Behälter für etwas, das wirklich wichtig“ ist, berichtet Pfarrer Stefan Nadolny von den gemeinsamen Überlegungen. In dem Gespräch damals, das auf Englisch stattfand, sei irgendwann das Stichwort „common ground“ gefallen. Wörtlich übersetzt ein gemeinsamer Boden, eine Basis, auf die sich alle verständigen können. Aus der Beobachtung, dass heutzutage zunehmend der gemeinsame Grund verloren gehe, auf dem alle zusammenstehen, entstand die Idee für den Teppich.

Rund um die Stoffberge in der Mitte haben sich inzwischen etwa 15 Menschen versammelt. Erst herrscht Zurückhaltung um den Tisch, viele kennen sich noch nicht. Dann greifen nach und nach die Hände in den Stoff, und über das Arbeiten kommen die Teppichknüpfer ins Gespräch. Die Kasseler Kunststudentinnen Veronika Cerkesa und Olivia Berke sind zum ersten Mal dabei: „Das ist ein gutes Projekt, wir wollten es mal ausprobieren“, sagen sie und schneiden dabei ein Baumwolltuch in schmale Streifen.

Zehn Gruppen am Schrein-Projekt beteiligt

Der niederländische Künstler reinaart vanhoe, der sich ohne Großbuchstaben schreibt oder den Künstlernamen „ook_reinaart vanhoe“ verwendet, hat insgesamt zehn Gruppen zu seinem Projekt für die documenta fifteen eingeladen – acht davon aus Kassel. Sie alle erarbeiten zu dem Thema „Schrein“ eigene Ideen und Aktionen. Unter anderen sind eine lateinamerikanische Gruppe, das BPoC-Festival, die Dynamitas von Dynamo Windrad und das ColorLabor beteiligt. Der Künstler aus Rotterdam interessiert sich für das Konzept der „Nachbar*innenschaftlichkeit“ – wie man miteinander redet und gemeinsam Dinge erschafft“. Dazu passt, dass der 49-Jährige sich nicht alleine auf Fotos abbilden lässt, sondern nur zusammen mit anderen. Ihm sei es wichtig gewesen, die Menschen aus Kassel, die gleichzeitig Gastgeber und Besucher der documenta seien, schon frühzeitig einzubinden, sagt vanhoe gegenüber der HNA. Er spricht von den „first visitors“ - also den ersten Besuchern der documenta. Ebenso habe er für sein Projekt einen Ort gesucht, der schon vor der Weltkunstausstellung in Benutzung war und es auch danach sein wird: Daher wird für sein Projekt das Stadtteilzentrum Wesertor während der documenta zum „ook_visitorZentrum“.

Ein paar Stühle weiter sitzt Enoch Debrah und flicht einen Stoffzopf. Debrah kommt aus Ghana und studiert seit zweieinhalb Jahren in Kassel. Im Gottesdienst hat er von den Treffen jeden Freitag erfahren. Handarbeit sei eigentlich nicht so sein Ding. „Ich mag vor allem die Idee an der Sache“, sagt der 28-Jährige auf Englisch. „Common Ground: Das bedeutet, dass alle Menschen gleich sind.“

Häkeln: Verschiedene Techniken kommen zum Einsatz.
Häkeln: Verschiedene Techniken kommen zum Einsatz. © Fischer, Andreas

Vielfalt ist bei dem documenta-Projekt in jeder Hinsicht erwünscht. Auch bei der Herstellung des Teppichs: alle Stoffarten und -farben, alle Techniken sind erlaubt. Häkeln, flechten, weben, knoten oder knüpfen. Eine Teilnehmerin hat sogar eine kreative Methode gefunden, um Stoffmasken und Socken zusammenzufügen. Aus allen bunten Versatzstücken gilt es dann, ein Ganzes zu machen. Stefan Nadolny fädelt gerade zwei Teile zusammen, die an einen Topflappen und einen wuseligen Flokati erinnern. „Einen Weg zu finden, Verschiedenes zu verbinden“, sagt der Pfarrer, „hat auch etwas sehr Meditatives.“

Und so verbinden sich mit jedem Stück, um das der Flickenteppich wächst, auch die Menschen miteinander. Nach einer Stunde ist aus der andächtigen Stille ein munteres Geplauder geworden. Man redet – notfalls mit Händen und Füßen – , es wird gelacht, jemand verteilt übrig gebliebene Schoko-Ostereier.

Martin Ahmad (Nachname geändert), der vor zwei Jahren aus Syrien geflohen ist, ist von Anfang an beim Projekt dabei. „Wir arbeiten zusammen für ein Stück Schönheit für unsere Stadt“, sagt der 31-Jährige auf Englisch. In seiner Heimat hat er in einem Friedensprojekt gearbeitet, bis er deshalb bedroht wurde. Es gehe nicht darum, einen perfekten Teppich herzustellen, sagt er: „Am wichtigsten ist es, Menschen zusammenzubringen und eine neue Brücke zu bauen.“

Auch während der documenta soll der Teppich diese Brückenfunktion haben: Auf dem Gemeinschaftskunstwerk sollen Aktionen und Gespräche rund um die Frage stattfinden, was uns verbindet.

Mitmachen

Alle Menschen sind eingeladen, ein Stück Teppich mitzugestalten. Die Treffen finden freitags, 17 Uhr, und dienstags, 11.30 Uhr, im Stadtteilzentrum Wesertor statt (Weserstr. 26). Auch wer eine Aktion auf dem Teppich planen möchte, kann sich melden.

Kontakt: Stefan Nadolny, E-Mail: stefan.nadolny@ekkw. Tel. 0157/38 70 44 95

Mehr Infos zum Projekt: commonground.hotglue.me

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