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„Rollenverständnis unzureichend“: Experten zur Aufgabe der documenta-Geschäftsführung

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Von: Mark-Christian von Busse

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Die Broschüre, die das Archives des luttes des femmes en Algérie im Fridericianum präsentierte, enthält als antisemitisch kritisierte Motive.
Umstritten: Die Broschüre, die das Archives des luttes des femmes en Algérie im Fridericianum präsentierte, enthält als antisemitisch kritisierte Motive. Die documenta ließ sie strafrechtlich begutachten. Nach Ansicht des Expertengremiums genügte das nicht – eine Distanzierung der Geschäftsführung wäre erforderlich gewesen. © Uwe Zucchi/dpa

Im Abschlussbericht zur documenta fifteen äußert sich das Expertengremium zu antisemitischen Kunstwerken und nimmt Stellung zum Verhalten der Geschäftsführung.

Kassel – Dazu macht er Vorschläge für die künftige organisatorische Ausrichtung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Teil zwei unserer Analyse befasst sich damit in Fragen und Antworten – den ersten Teil zum Abschlussbericht finden Sie hier.

Was sagt das Expertengremium um die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff zur Rolle der Geschäftsführung? Sie sieht eine „organisationale Billigung“ der Ausstellung von als antisemitisch identifizierten Werken. Es sei ein Fehler gewesen, umstrittene Werke nur auf ihre mögliche strafrechtliche Relevanz hin zu begutachten, weil es zusätzlich auf eine „moralische und politische Ächtung“ ankomme.

Eine rein strafrechtliche Prüfung – die die Geschäftsführung vorgenommen hatte – sei dem Problem in einer staatlich geförderten Kunstschau nicht angemessen. Die Frage sei, „wie der Staat sein Bekenntnis zum Schutz von Jüdinnen und Juden und gegen Antisemitismus umsetzt“. Gerade aus jüdischer Perspektive habe die documenta diese existenzielle Dimension verkannt.

Urteilt das Gremium über konkrete Verantwortung? Verblüffend ist, wie hart es mit Interimsgeschäftsführer Alexander Farenholtz ins Gericht geht, der im Juli Sabine Schormann abgelöst hatte. Mit ihrer Rolle befasst er sich dagegen kaum. Auch über die wechselnde Geschäftsführung hinweg sei „keine eigenständige Willensbildung oder Handlungsbereitschaft“ zu erkennen gewesen, „die über eine grundsätzlich affirmative Haltung zugunsten der künstlerischen Leitung hinausgehen würde“.

Farenholtz hatte sich im Konflikt um die Kontextualisierung der Filmreihe „Tokyo Reels“ von Subversive Film in der Hübner-Halle – sie war letztlich am Zaun des Hübner-Areals angebracht worden – auf die Seite von Ruangrupa gestellt. Das habe die „öffentlich-rechtlichen Bindungen als materiell staatlich handelnder Akteur“ verletzt und zeige das falsche, eingeschränkte Selbstverständnis eines moderierenden Dienstleisters, der lediglich die Infrastruktur für eine gelingende Ausstellung zu liefern hat.

Die Geschäftsführung müsse sich aber als Vertreterin des Gemeinwohls verstehen, nicht als bloße Anwältin der künstlerischen Leitung: „Die selbstauferlegte Sprachlosigkeit der Geschäftsführung angesichts eindeutig antisemitischer Werke ist nicht mit ihren Pflichten als Vertreterin der öffentlichen Hand zu vereinbaren.“

Ist dieses Urteil über Interimsgeschäftsführer Farenholtz berechtigt? Es verkennt zumindest, in welcher schwierigen Lage der ehemalige Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des Bundes kurzfristig seinen bis Oktober befristeten Posten in Kassel übernommen hat – seine Aufgabe war, die Ausstellung überhaupt zu Ende zu bringen. Einerseits wurde in Medien und Politik deren sofortiger Abbruch gefordert, andererseits solidarisierte sich die „Lumbung-Community“ der Künstler mit der attackierten künstlerischen Leitung Ruangrupa.

Die Befürchtung war nicht unberechtigt, dass sie alle sich von der documenta zurückziehen könnten. Zumindest in symbolischer Form ist das ja tatsächlich durch Plakataktionen geschehen („Withdrawing documenta“). Für Farenholtz galt es, mit den Kuratoren erst einmal ein Vertrauensverhältnis herzustellen.

Eine Erklärung der fachwissenschaftlichen Begleitung zur Filmreihe „Tokyo Reels“ wurde am Zaun des Hübner-Areals aufgehängt.
Kontroverse: Ruangrupa hatte eine Erklärung der fachwissenschaftlichen Begleitung zur Filmreihe „Tokyo Reels“ in der Ausstellung abgelehnt. Sie wurde am Zaun des Hübner-Areals aufgehängt. © Mark-Christian von Busse

Entspricht nicht Farenholtz’ Haltung dem bisherigen Verständnis der Geschäftsführerrolle? Ja, bisher hat sie der künstlerischen Leitung möglichst große Freiheit eingeräumt. Der Bericht setzt völlig neue Akzente, wenn er eine „Letztverantwortung der öffentlichen Hand“ postuliert, die die Geschäftsführung innehabe, und ihre Stärkung gegenüber den Kuratoren fordert.

Die d15 habe belegt: „Das bisherige Rollenverständnis einer rein dienstleistenden Geschäftsführung, die sich primär den kaufmännischen Aspekten der Ausstellungsorganisation und -durchführung widmet, ist im Ernstfall unzureichend.“

Welche Schlussfolgerungen ziehen die Fachleute? Sie fordern statt der „Verantwortungsdiffusion“ bei der d15 vor allem eine klare Aufgabentrennung von Verwaltungsspitze und künstlerischer Leitung. Der Berliner Rechtswissenschaftler Christoph Möllers, Mitglied des Expertengremiums, hatte bereits in einem Gutachten für Kulturstaatsministerin Claudia Roth die unterschiedlichen Rollen aufgedröselt: Während die Tätigkeit der künstlerischen Leitung – kuratorische Konzeption, Programmgestaltung, Einladung an Künstler – von der Kunstfreiheit geschützt sei, könne die Geschäftsführung diese nicht für sich beanspruchen.

Die Linie zwischen der grundrechtlich verbürgten Kunst- und Meinungsfreiheit einerseits und der Verantwortung und Verpflichtung des Staates durch Grundrechte – etwa im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot und den Gleichheitsgrundsatz – verlaufe mitten durch die documenta gGmbH hindurch, die „Kollisionslage“ verdichte sich in ihrer Struktur.     

Welche Rolle soll die Geschäftsführung künftig einnehmen? Sie dürfe sich nicht einfach mit der künstlerischen Leitung identifizieren, sondern müsse als „staatlicher Teil“ der Organisation die verfassungsrechtlichen und politischen Vorgaben ihr gegenüber vertreten – und sich notfalls öffentlich von ihr distanzieren, wie es beim Taring-Padi-Banner der Fall gewesen ist.

Insgesamt aber sei ihr Handeln bei der d15 „rechtlich problematisch, ja im Einzelfall wohl sogar pflichtwidrig“ gewesen: „Aus Sicht des Gremiums ist es nicht hinnehmbar, dass die Geschäftsführung – als Vertreterin der öffentlichen Hand – in der Governance-Struktur der documenta nicht über die Instrumente verfügt, in das Ausstellungsgeschehen einzugreifen, wenn Kunstwerke jenseits der Schwelle des Strafrechts grundlegende Verfassungsnormen wie das Diskriminierungsverbot verletzen. Interventionen müssen sorgfältig gegen den Wert der Kunstfreiheit abgewogen werden, aber sie dürfen nicht unmöglich sein.“

Welche Vorschläge macht das Gremium? Es ist ein ganzes Bündel (siehe auch Kasten). Der Bericht verlangt eine klare, konsequente Zurechenbarkeit von Verantwortung und Zuständigkeiten.   Unklar sei etwa die Rolle des Artistic Team gewesen, dessen Mitglieder als Angestellte der gGmbH mit Solidarisierungsbekundungen gegen Entscheidungen der Gesellschafter polemisiert hätten.

Auch die Findungskommission habe sich gegen Aufsichtsrat und Gesellschafter gestellt und die Konflikte verschärft, habe jedenfalls als Beratungsgremium für Ruangrupa versagt.

Eine der Ursachen der Probleme sei gewesen, dass die Vermittlungs- und Kommunikationsabteilungen bei der Geschäftsführung verortet waren. Sie könnten wieder der künstlerischen Leitung zugewiesen werden, „aber mit definierten Zugriffsrechten der Geschäftsführung im Falle eines Problems“.   

Wie sind diese Anregungen zu bewerten? Manchen Vorschlägen kann man ohne Weiteres zustimmen, etwa dass eine bessere Kontextualisierung von Exponaten sinnvoll ist: „Auf der documenta fifteen hätte eine Offenheit der künstlerischen Leitung für Kontextualisierungen, die den Problemlagen der deutschen Öffentlichkeit gerecht werden, viele Konflikte abmildern können.“

Für denkbar halten die Wissenschaftler auch eine Doppelstruktur mit einem künstlerischen Intendanten neben dem kaufmännischen Direktor. Das erscheint abwegig: Was soll dieser Intendant tun, außer als eine Art Aufpasser für die künstlerische Leitungen – auch des Fridericianums und des documenta-Archivs – zu fungieren?

Wie ist die Rollenbeschreibung des Geschäftsführers zu beurteilen? Da wird es heikel. Der frühere documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld hat im Abschiedsinterview vor seinem Eintritt in den Ruhestand von heftigen Auseinandersetzungen berichtet – hinter den Kulissen.

Auch der Expertenbericht beschreibt Konfliktfelder: Kuratoren seien auf den Erfolg der Ausstellung fokussiert, Geschäftsführer müssten haftungs- und budgetrechtliche Fragen, Gebote der Wirtschaftlichkeit, Sicherheit und „Nichtdiskriminierung“ beachten. Dazu kommen Schnittmengen mit geteilter Verantwortung wie bei der Auswahl des Verlags für den Katalog oder die Öffentlichkeitsarbeit.

Wenn bei Konflikten keine Einigung möglich ist, bleibt im Extremfall letztlich nur der Rückzug eines der Beteiligten. Kirsten Haß, Verwaltungsdirektorin der Kulturstiftung des Bundes, hat kürzlich im Bundestagskulturausschuss als Beispiel für eine solche Zuspitzung die Bühnen in Halle (Saale) genannt – wo übrigens der heutige Kasseler Staatstheater-Intendant Florian Lutz beteiligt war.

Welche Lösung sieht der Bericht für Konflikte auf der Leitungsebene vor? Er sieht diese Gefahr, hat aber – über die Bereitschaft zur Konsenssuche und Verständigung hinaus – kein Patentrezept. Formuliert ist das so: Es gebe „eine organisationsinterne Spannung, die einer die Positionen beider Seiten schonenden Auflösung bedarf.“ Eines sagt der Bericht unmissverständlich, zur Berufung der künstlerischen Leitung: „Die Einrichtung einer politisierten Vorauswahl würde die Reputation der documenta zerstören.“

Wie lassen sich die Reaktionen zusammenfassen? Der Abschlussbericht hat der documenta eine neue Runde negative mediale Aufmerksamkeit gebracht. Der „Spiegel“ sah eine fundierte, erschütternde Einschätzung dessen, was auf der documenta „dramatisch schieflief“.

Vonseiten der Auftraggeber – Stadt Kassel und Land Hessen als Gesellschafter – heißt es, die Analyse sei eine wichtige Grundlage für alle weiteren Überlegungen. Das findet auch der neue documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann, der im Mai beginnt. Was von den Vorschlägen umgesetzt werden soll, das wird den neu oder wiedergewählten Oberbürgerbürgermeister als Aufsichtsratsvorsitzenden sehr bald beschäftigen müssen.

Schließlich drängt die Zeit. Die Findungskommission müsste bald die Arbeit aufnehmen, damit die künstlerische Leitung der documenta 16 spätestens Anfang 2024 berufen werden kann.

Vorschläge für die künftige Organisation der documenta

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