Nach Antisemitismus-Eklat: Eichel und Kollegen kritisieren Steinmeier, Scholz und Roth
Nach dem Antisemitismus-Eklat auf der documenta fifteen haben nun mehrere prominente Politiker aus Kassel eine gemeinsame Erklärung abgegeben.
Kassel – Nach dem Antisemitismus-Eklat auf der documenta fifteen melden sich nun auch Kassels ehemalige SPD-Oberbürgermeister zu Wort – darunter Hessens ehemaliger Ministerpräsident und einstiger Bundesfinanzminister Hans Eichel. In einer sieben Punkte umfassenden Erklärung nehmen Eichel, Bertram Hilgen und Wolfram Bremeier gemeinsam mit Kassels aktuellem Oberbürgermeister Christian Geselle Stellung zu der Entwicklung der vergangenen Tage.
Dabei bezeichnen sie es als schweren Fehler, das Kunstwerk „People’s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektives Taring Padi mit seinen antisemitischen Abbildungen auf dem Friedrichsplatz präsentiert zu haben. Aber: Sie zeigen sich auch enttäuscht vom Bundespräsidenten und kristisieren den Bundeskanzler.

documenta in Kassel: Erklärung zum Antisemitismus-Eklat zum Nachlesen
- 1. Die Unterzeichner bekennen sich zu den Prinzipien, die die documenta in den vergangenen Jahrzehnten zur weltweit bedeutendsten Ausstellung moderner Kunst gemacht haben: völlige Unabhängigkeit von politischem Einfluss, Garantie der künstlerischen Freiheit, Globalität als Ziel und Anspruch.
- 2. Dieses Bekenntnis gilt auch und gerade in schwierigen Zeiten. Und die documenta fifteen durchlebt in diesen Tagen wahrlich schwierige Wochen. Die Präsentation der Arbeit „People’s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektives Taring Padi auf dem Friedrichsplatz war ein schwerer Fehler. Antisemitismus hat keinen Platz auf der documenta. Die Verantwortlichen haben richtig reagiert: Das Bild wurde zunächst verhüllt, dann abgenommen. Ruangrupa, Taring Padi und die Generaldirektorin haben um Entschuldigung gebeten. Es wird überprüft, ob andere antisemitische Kunstwerke gezeigt werden. Durch eine Diskussionsreihe, die in dieser Woche begonnen hat, wird die Problematik öffentlich aufgearbeitet. Die documenta fifteen wird durch diesen schweren Fehler in ihrer Gesamtheit nicht infiziert. Ein Generalverdacht dieser Art ist nicht gerechtfertigt und unangemessen. Das belegen auch die erfreulichen Besucherzahlen und die durchweg positive Bewertung der Ausstellung durch die Documenta-Gäste. Das Kunstpublikum bildet sich seine Meinung durch eigene Anschauung und nicht auf der Grundlage der Bewertung Dritter. Auch die internationale Presse würdigt die Ausstellung sehr positiv.
- 3. Wir sind enttäuscht von der Eröffnungsrede des Bundespräsidenten. Wir bewerten die Begründung des Bundeskanzlers für seine Weigerung, die Ausstellung zu besuchen, als pauschale Vorverurteilung und daher unangemessen. Es wäre zu begrüßen, wenn der Bundeskanzler seine Haltung nochmals überdenkt. Wir laden ihn herzlich zu einem Besuch der documenta fifteen ein.
- 4. Die Unterzeichner lehnen den sogenannten 5-Punkte-Plan, den die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth kürzlich vorgelegt hat, als Angriff auf die documenta entschieden ab. Im Kern geht es der Beauftragten um mehr Einfluss des Bundes auf die Entscheidungen der documenta-GmbH. Begründet wird dies unter anderem damit, „dass die vor allem lokale Verantwortlichkeit der documenta in einem Missverhältnis zu deren Bedeutung … steht.“ Mit anderen Worten: Kassel ist zu provinziell und muss künftig durch das klügere, weltgewandte Berlin an die Hand genommen werden.
- Diese Haltung ist Ausdruck kaum zu überbietender Arroganz und übersieht, dass sich die documenta in ihrer über 60-jährigen Geschichte in „lokaler Verantwortlichkeit“ zu dem entwickelt hat, was sie heute ist – und das ohne oder nur mit sehr bescheidener finanzieller Unterstützung durch den Bund. Es ist auch keineswegs so, dass dort, wo sich der Bund entgegen der in der Verfassung verankerten Kulturhoheit der Länder um große Projekte intensiv gekümmert hat, durchweg gute Ergebnisse produziert worden wären. Die in dem 5-Punkte-Plan offen ausgesprochene Drohung: Ohne mehr Einfluss kein Geld! muss uns nicht schrecken. Die documenta könnte im Zweifel auch ohne die bescheidenen Bundesmittel finanziert werden. Kassel ist darauf nicht angewiesen. Sollte die Beauftragte auf diesem Junktim bestehen, muss die Stadt sie auffordern, die finanzielle Unterstützung umgehend und vollständig einzustellen - und künftig in öffentlicher Funktion zur documenta zu schweigen.
- 5. Wir würden es sehr begrüßen, wenn der neue Hessische Ministerpräsident, der die documenta fifteen aus seiner Zeit als Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst und zugleich stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der documenta-GmbH gut kennt, seine Kabinettskollegin Angela Dorn darauf hinweist, dass eine Zange Berlin-Wiesbaden, die versucht, Kassel unter Druck zu setzen, nicht im Interesse des Landes liegen kann. Dafür gibt es unabhängig von der documenta zu viele gemeinsam getragene Kultureinrichtungen in Kassel, die auf eine gedeihliche Zusammenarbeit von Stadt und Land angewiesen sind.
- 6. Die Einberufung einer Expertenkommission, wie sie die beiden Ministerinnen zu Beginn des Jahres gefordert und jetzt erneut thematisiert haben, mit dem Ziel, die Kunstwerke vorab zu bewerten, hätte die Arbeit des Kuratorenteams grundsätzlich infrage gestellt und wäre einer Zensur sehr nahe gekommen. Es war richtig, dieses Ansinnen zurückzuweisen.
- 7. Wir unterstützen das Kuratorenteam, die Künstlerinnen und Künstler, die Generaldirektorin und alle Mitarbeitenden der documenta fifteen dabei, einen inspirierenden documenta-Sommer zu gestalten, die Ausstellung zu einem insgesamt erfolgreichen Abschluss am 25. September zu führen und bedanken uns für ihren Einsatz und ihr Engagement. Nach dem Ende der documenta fifteen, nicht früher, ist Zeit und Gelegenheit, über evtl. Veränderungen zu sprechen. (Florian Hagemann)