Sie schaute Beuys über die Schulter: Kasselerin (91) hat bisher jede documenta gesehen

Als Arnold Bode 1955 mit der ersten documenta Kunstgeschichte schrieb, war sie eine junge Frau. Die 91-jährige Kasselerin Helga Seibert hat bisher jede documenta gesehen.
Kassel - Joseph Beuys hat sie auf dem Friedrichsplatz bei der Arbeit über die Schulter geschaut, ihr Sohn holte sich ein Autogramm von ihm. Helga Seibert ist 91 Jahre alt und freut sich auf ihre 15. documenta. Die zierliche Frau, die heute am Brasselsberg lebt, hat in der Tat seit 1955 jede documenta gesehen. Und will mit Unterstützung von ihren Söhnen auch diesmal dabei sein. Mit dem Rollator kommt sie in der Wohnung gut zurecht, durch die Ausstellungsräume wird sie wahrscheinlich auf einen Rollstuhl zurückgreifen.
Wie das damals im Jahr 1955 war? „Eigentlich wollte ich zur Bundesgartenschau“, sagt die gelernte Bibliothekarin, die damals ein Praktikum in der Marburger Uni-Bibliothek machte. Während der Busfahrt nach Kassel habe sie ihre Sitznachbarin auf die documenta angesprochen. „Ich wusste damals nichts von der Ausstellung, hatte aber große Lust auf moderne Kunst“, sagt sie.
Wer wie sie im Dritten Reich aufgewachsen sei, habe davon ja so gut wie nichts mitbekommen. Umso größer sei die Neugier gewesen. Hauptausstellungsort war damals das Fridericianum. Dort hing unter anderem ein großformatiges Gemälde von Paul Klee. „Davon hatten wir zuhause eine Postkarte“, erinnert sich Helga Seibert. Sie sei von dem Original völlig überwältigt gewesen.
Es war der Beginn einer langen Beziehung zur documenta. Durch ihren Mann Herbert Seibert, der Lehrer am Wilhelmsgymnasium war, kam sie nach Kassel und hatte in den nächsten Jahrzehnten jeweils ein Heimspiel zur Kunstausstellung. In den frühen Jahren sei das alles noch wesentlich lockerer gewesen als heute. Ihre Kinder – der älteste Sohn ist Jahrgang 1961 – seien mit der documenta aufgewachsen. Die hätten zwischen den Kunstwerken gespielt, durften auch mal etwas anfassen. Heute sei das alles sehr viel strenger.

Aus den ersten documenta-Jahren ist eine Skulptur von Henry Moore in Erinnerung geblieben. Wie hieß die noch? Das Königspaar? Fast. König und Königin. Man kann das ja alles mit ein paar Klicks im Internet nachschauen. An ein Gemälde von Picasso erinnert sie sich auch noch. Am Ende eines langen Ganges sei das aufgehängt gewesen. Von dem Mädchen vor dem Spiegel gibt es sogar noch ein Foto, das den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss zusammen mit Arnold Bode in der Ausstellung zeigt. Den Besuch des Präsidenten hat Helga Seibert allerdings nicht mitbekommen.
Die Diskussionen über die documenta schon. Denn über all die Jahre gab es immer wieder spektakuläre und umstrittene Kunstwerke, die sie besonders bewegt haben. Die verpackte Luft von Christo (1968), diese einer Wurst ähnliche Hülle, die mehrfach umgefallen ist, ehe sie endlich stand. Das sei doch eine echte Attraktion gewesen, sagt Helga Seibert.
Die Aufregung über die Beuyssteine auf dem Friedrichsplatz habe sie nie so richtig nachvollziehen können. Auch nicht die Debatten über die Honigpumpe. Das sei doch alles Ausdruck von künstlerischer Freiheit. Nie wird sie die mehrfachen zufälligen Treffen mit Joseph Beuys vergessen, mit dem Ausnahmekünstler, der die documenta geprägt hat.
Und auch der Turm der Hoffnung von Mo Edoga (1992) war für sie ein herausragendes Kunstwerk. Damals sei sie so oft wie möglich am Friedrichsplatz gewesen und habe dem Künstler mit den gelben Handschuhen bei der Arbeit zugesehen.
Später habe sie das Kunstwerk Template von Ai Weiwei (2007) toll gefunden. Zunächst auf Fotos und dann vor Ort in der Karlsaue. „Wissen Sie noch, wie das aussah, als es im Sturm zusammengebrochen ist“, fragt die documenta-Veteranin. Wer könnte das vergessen? Helga Seibert bestimmt nicht. Sie findet es gut, dass diesmal auch im Kasseler Osten Kunst präsentiert wird. „Mal sehen, was ich noch so schaffe“, sagt die Frau, die ihren ersten Kontakt mit der documenta vor 67 Jahren hatte. Die fand damals übrigens ausschließlich im Fridericianum statt, das noch von den Bombentreffern im Zweiten Weltkrieg gezeichnet war.
Zum Fototermin zwischen den Beuys-Bäumen auf dem Friedrichsplatz hat sie ihr ältester Sohn begleitet. Wenn die Hitze vorbei ist, will sie zurückkommen und sich in Ruhe umsehen – auf ihrer 15. documenta. (Thomas Siemon)