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Antisemitisches Kunstwerk „nicht aufgefallen“: documenta-Direktorin nennt neue Details

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Von: Florian Hagemann, Tibor Pezsa

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documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann bei der Pressekonferenz vor der Eröffnung der documenta fifteen.
Unter Druck: documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann erklärt im exklusiven HNA-Interview, wie der Skandal rund um den Abbau des Kunstwerks auf dem Friedrichsplatz zustande kam. © Fischer, Andreas

Der Antisemitismus-Eklat erschüttert die documenta. Nun erarbeitet die documenta eine Gesprächsreihe dazu. Das kündigt Generaldirektorin Schormann im Interview an.

Kassel – Sabine Schormann ist Generaldirektorin der documenta in Kassel und war nach der Antisemitismus-Kritik erheblich in die Kritik geraten.

Womöglich bereits am kommenden Mittwoch soll eine entsprechende Veranstaltung als Auftakt stattfinden. Wir sprachen mit Schormann.

Frau Schormann, wenn man sich auf der documenta umschaut und umhört, trifft man auf viel gute Laune und großes Interesse. Zugleich bewegen die Kulturszene und die Gesellschaft zurzeit nur das Thema Antisemitismus und der Abbau des Wimmelbildes auf dem Friedrichsplatz. Wie konnte das passieren?

Da muss man die Strukturen der documenta sehen. Für sie ist die künstlerische Freiheit konstitutiv. Das gilt für alle Beteiligten, für mich als Leiterin der gGmbH und für Ruangrupa als Kuratorinnen- und Kuratorenteam. Für mich als Geschäftsführerin, die ich für die Organisation zuständig bin, gilt das in besonderem Maße. Ich habe die Freiheit des künstlerischen Programms zu garantieren. Für das künstlerische Programm selbst, also für die Kuratierung der Ausstellung, ist die künstlerische Leitung zuständig, bei dieser documenta Ruangrupa, unterstützt von einem von ihnen selbst bestimmten fünfköpfigen künstlerischen Team.

Ruangrupa hat einen komplett ergebnisoffenen Prozess gestartet mit weltweiter Netzwerkbildung.

Und das ist mittlerweile auf über 1500 Künstlerinnen und Künstler angewachsen. Das heißt aber zugleich, dass Ruangrupa sich nicht primär im klassischen Sinne als Kuratorinnen und Kuratoren verstehen. Das grundlegend Neue an Ruangrupas Konzept ist demgegenüber der radikal ergebnisoffene Prozess, der den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern sowie Kollektiven Freiräume eröffnet und neue Erfahrungen ermöglichen will, und das alles auf Basis von Werten wie etwa Freundschaft, Solidarität, Ressourcenschonung.

Und wie konnte dabei eine offen antisemitische Hasskarikatur herauskommen?

Zunächst ist dabei genau die wunderbar anregende, einladende Atmosphäre dieser documenta herausgekommen, die Sie eingangs zu Recht erwähnten. Das ist das Positive. Eine andere Konsequenz dieses Prozesses ist aber, dass dabei auch eine gewisse Autarkie entstanden ist, die selbstverständlich nicht zu solchen Darstellungen führen darf.

Also ist das Spezielle dieser Kuratierung, dass sie programmatisch eigentlich gar nicht stattfindet?

Zumindest in gewisser Weise ist das so. Aber nur dadurch entstehen nach dem Verständnis von Ruangrupa diese kulturell unterschiedlichen und in ihrer Vielfalt so bereichernden Erfahrungsräume. Wie wir jetzt sehen, kann dies leider auch zu Fehlentwicklungen oder Missverständnissen führen, die Ruangrupa in der eingenommenen Rolle nicht ausräumen und moderieren kann oder will.

Bei der Vorstellung der documenta-Leitung im Februar 2019: Als erstes Kollektiv kuratiert die indonesische Gruppe Ruangrupa die documenta.
Bei der Vorstellung der documenta-Leitung im Februar 2019: Als erstes Kollektiv kuratiert die indonesische Gruppe Ruangrupa die documenta. © Dieter Schachtschneider

Hessens Kunstministerin Angela Dorn hat ja wohl auch deswegen „verantwortungsvolles Kuratieren“ angemahnt. Was könnte man besser machen?

Nochmal zur Klarstellung: Die Kuratorenrolle liegt nicht bei der Geschäftsführung. Aber auch für Ruangrupa sind die Schwierigkeiten, welche die Corona-Pandemie mit ihren vielen Einschränkungen für die künstlerische Vorbereitung der documenta mit sich brachte, nicht zu unterschätzen: die Beschränkung aufs Digitale oder die Tatsache, dass viele Akteure erst sehr spät persönlich zusammenkommen konnten. Viele Dinge konnten deswegen erst in Erscheinung treten, als sie gehängt wurden.

War das auch so bei dem jetzt wieder abgehängten Banner der Künstlergruppe Taring Padi auf dem Friedrichsplatz?

Ja. Es gehörte zu einer Fülle von Arbeiten von Taring Padi, die alle sehr verspätet per Schiffscontainer hier ankamen. Erst beim Aufhängen wurde bemerkt, dass das alte Banner, welches aus vier Einzelteilen besteht, mit der Zeit so mitgenommen war, dass es nach Teilhängung wieder abgenommen werden und von einer Firma neue Ösen für die Befestigung eingearbeitet werden mussten.

Ist das der einzige Grund, warum das Werk nicht schon am Mittwoch hing, sondern am Freitag?

Ja. Und weil es ein üppig volles Wimmelbild ist, ist die antisemitische Darstellung darin im Tohuwabohu des Eröffnungswochenendes zunächst nicht aufgefallen. Wir hatten gesagt, dass wir beim Auftauchen antisemitischer Inhalte eingreifen würden. Und das haben wir, das habe ich als Geschäftsführerin umgehend getan.

Und nun?

Wir untersuchen jetzt systematisch die Ausstellung darauf, ob weitere kritische Werke auftauchen. Dabei wird auch Ruangrupa seiner kuratorischen Aufgabe gerecht werden müssen. Unterstützt werden sie dabei von anerkannten Experten wie Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank. Wir werden das im Verlauf der prozessual angelegten Ausstellung fortlaufend tun.

Wo liegt dann das Versäumnis?

Es ist nicht die Aufgabe der Geschäftsführung, alle Werke einmal vorab in Augenschein zu nehmen und freizugeben. Das würde dem Sinn der documenta widersprechen. Es kann daher auch nicht sein, die Kunst zum Beispiel einem Expertengremium im Vorfeld zur Freigabe vorzulegen. Das ist eine Kernaufgabe der Künstlerischen Leitung, auf die alle Kuratorinnen und Kuratoren der vergangenen documenta-Ausstellungen bestanden haben. Insofern ist das nicht die Fehlstelle beziehungsweise irgendein Versäumnis. Ruangrupa und die Künstler haben versichert, dass es keinen Antisemitismus geben wird. Das Problem ist, dass es aus ihrer Sicht keiner ist. Und an dieser Stelle liegt das Missverständnis. Sie haben ihre Aufgabe aus ihrer Perspektive wahrgenommen, und es ist ihnen aufgrund unserer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist.

Was den Vorwurf laut werden lässt, dass sich Ruangrupa mit den Begebenheiten in Deutschland nicht vertraut gemacht hat oder Ruangrupa nicht damit vertraut gemacht worden ist.

Doch, das ist geschehen. Wir haben ihnen mehrere Einführungen gegeben, und sie werden durch Beraterinnen und Berater unterstützt. Trotzdem war ihnen nicht klar, dass ein solches Motiv in Deutschland so eingeschätzt wird. Daraus resultiert auch eine gewisse Gefahr, dass ohne böse Absicht von Ruangrupa auch noch etwas anderes übersehen worden sein könnte.

Wo verläuft die Grenze oder die rote Linie?

Zunächst: Die Entscheidung der Abhängung des Banners ist nicht an Ruangrupa und Taring Padi vorbei getroffen worden, sondern ich habe am Montag direkt das Gespräch mit beiden gesucht. Wir haben erläutert, wo das tatsächliche Problem liegt. Taring Padi hat verstanden und sich dafür entschuldigt, dass sie Grenzen überschritten und Gefühle verletzt haben. Dann wurde gemeinsam überlegt, was der beste Weg ist, mit der Situation umzugehen. Die erste Intention der Künstlerinnen und Künstler war, das Werk zu verdecken, um genau die Stelle zu markieren, an der der Dialog von beiden Seiten stattfinden müsste.

Aber?

Es wurde sehr schnell klar, dass das nicht ausreicht, um den entstandenen Schaden auszuräumen. Vor diesem Hintergrund habe ich in Abstimmung mit den Gremien die Entscheidung getroffen, das Kunstwerk abzubauen.

Was passiert als nächstes – auch in Hinblick auf die nun verunsicherten Künstler?

Ich stehe nach wie vor dafür, den notwendigen Freiraum für die Kunst einzuräumen. Aber meine Aufgabe und Verantwortung ist es auch, und das sage ich ganz entschieden, sicherzustellen, dass auch die andere Seite nicht verletzt wird, die Grenzen also nicht überschritten werden. Die Kunstfreiheit ist nicht absolut, wenn sie an andere Grundrechte stößt.

Aber die rote Linie müsste doch klar sein: Kritik an Israel ist erlaubt, aber antisemitische Hassklischees zu verbreiten, eben nicht?

Deswegen muss genau abgewogen werden. Da, wo es eindeutig Antisemitismus ist, muss so reagiert werden, wie wir reagiert haben. Wo es strittig wird, sollten wir im Rahmen der Kunstfreiheit eine Debatte führen. Dazu gibt es ein paar Arbeiten, die nun in der Diskussion sind – beispielsweise die Guernica-Reihe im WH 22.

Was folgt nun?

Wir wollen den ausgesetzten Dialog wieder aufnehmen. Die documenta gGmbH wird gemeinsam mit der Bildungsstätte Anne Frank eine Podiumsdiskussion ausrichten – womöglich schon am kommenden Mittwoch. Das soll der Auftakt sein zu mehreren Gesprächen. Auf dem Friedrichsplatz wollen wir ebenfalls zusammen mit der Bildungsstätte Anne Frank und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren einen Begegnungsstand aufbauen, wo man auch einen Dialograum schaffen kann.

Was erleben wir gerade: Das Ende der documenta oder die Bestätigung ihrer produktiven Kraft?

Ich glaube, wir sind nun an einem Punkt, wo wir uns alle einen offenen und fruchtbaren Dialog wünschen. Was uns leidtut: dass die documenta durch die Überschreitung der Grenzen Menschen verletzt hat. Das ist etwas, was wir auf keinen Fall wollten.

Zur Person Sabine Schormann

Dr. Sabine Schormann (60) ist in Bad Homburg geboren. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Mainz. Während der Expo 2000 in Hannover arbeitete sie als Projektleiterin. Danach war sie Direktorin der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und der VGH-Stiftung. Seit November 2019 ist sie Generaldirektorin der documenta. Schormann ist verheiratet und lebt in Kassel.

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