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„Echokammer für Antisemitismus“: Scharfe Kritik an documenta in Abschlussbericht

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Von: Mark-Christian von Busse

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Bevor es entfernt wurde: Das Banner „People’s Justice“ von Taring Padi.
Bevor es entfernt wurde: Das Banner „People’s Justice“ von Taring Padi. © Andreas Fischer

Der Abschlussbericht des Expertengremiums zur documenta fifteen übt scharfe Kritik: Die documenta habe als Echokammer für Antisemitismus fungiert.

Kassel – 133 Seiten stark ist der Abschlussbericht des Expertengremiums zur documenta – und die haben es in sich. Gesellschafter und Aufsichtsrat hatten die „fachwissenschaftliche Begleitung“ im Sommer 2022 angesichts der vehementen Antisemitismus-Vorwürfe eingesetzt.

Zu welchen Schlüssen kommen die Fachleute? Das stellen wir in Fragen und Antworten dar. Im ersten Teil geht es vor allem um die Bewertung der Kunstwerke. Ein zweiter Artikel wird die Rolle der Geschäftsführung und die Konsequenzen aus dem Abschlussbericht in den Blick nehmen. Den zweiten Teil zum Abschlussbericht finden Sie hier.

Lässt sich der Abschlussbericht in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen? Ja. Er ist in der Quintessenz eine Ohrfeige für ein Scheitern aller an der d15 Beteiligten – die künstlerische Leitung Ruangrupa, die Findungskommission, die ihr als Beratung und Mediator zur Seite stehen sollte, die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat.

Der bagatellisierende, schleppende, ja nonchalante Umgang mit der Frage des Antisemitismus sei „über weite Strecken von Ignoranz, Verharmlosung und Abwehr geprägt“ gewesen, heißt es: „Die documenta fifteen fungierte als Echokammer für israelbezogenen Antisemitismus, und manchmal auch für Antisemitismus pur“.

Der Bericht legt allerdings auch Kontroversen innerhalb des Gremiums offen. Zwei seiner Mitglieder, Elsa Clavé und Facil Tesfaye, sind vorzeitig ausgeschieden, „weil sie durch den Fokus des Gremiums auf Antisemitismus ihre Perspektive aus der Postkolonialismusforschung nicht genügend vertreten sahen.“ Die Konflikte um die documenta fifteen spiegelten sich also auch in diesem Gremium wider.

Was enthält der Text im Einzelnen? Die sieben Kapitel reichen von einer ausführlichen und detailreichen Darstellung der Ursprünge von „visuellen Codes“ und „Abwertungs- und Dämonisierungsmustern“ des Antisemitismus, die sie mit einer Stereotypisierung und Entmenschlichung auch documenta-Werken zuschreiben, über eine Chronik der Geschehnisse während der 100-tägigen Ausstellungslaufzeit bis zur Analyse der – laut Bericht absolut unzureichenden – Organisationsstruktur.

Man merkt am Duktus und an einigen Wiederholungen, dass verschiedene Autoren beteiligt waren – die Intensität ihrer Beschäftigung mit der d15 in 13 Plenarsitzungen und einer Vielzahl kleinerer Runden ist aber sehr beachtlich.     Berichtet wird auch, dass sich die Kooperation mit der documenta außerordentlich schwierig gestaltete.

Mit Ruangrupa war es über die Forderung einer Kontextualisierung der Filmreihe „Tokyo Reels“ auf dem Hübner-Areal zu einer „offenen Konfrontation“ gekommen. Das Gremium hatte gefordert, die Filmvorführungen bis zu einer angemessenen Kontextualisierung einzustellen – der sich Ruangrupa verweigerte. Die Künstlergruppe warf den Experten Unwissenschaftlichkeit und Rassismus vor.

Wie fällt das Urteil über die Kunstwerke aus? Zunächst: Neben den vier schon lange strittig beurteilten Kollektiven und Werkgruppen – Taring Padi, die Filmreihe Subversive Film/Tokyo Reels, Guernica Gaza und Archives des luttes des femmes en Algérie – hat das Gremium keine weiteren antisemitischen Exponate entdeckt.

In diesen vier Fällen kommt das Gremium zu dem Schluss, dass sie über Schwarz-Weiß-Propaganda hinaus „eindeutig antisemitische visuelle Codes aufweisen oder antisemitische Aussagen treffen“. Zudem hätten alle der zahlreichen Werke, die den Nahen Osten zum Thema hatten, eine einseitig antiisraelische bis israelfeindliche Position vertreten.

Juden seien nie als Opfer von Bedrohungen, Diskriminierung und Verfolgung dargestellt worden. Immer seien Israelis alleinige Aggressoren, bewaffneter Widerstand werde glorifiziert, Palästinenser seien friedliche, unschuldige Opfer. Gerade die Filme bewegten sich „zumindest hart an der Grenze zur Aufhetzung“.

Ist diese Argumentation schlüssig? Das kommt stark darauf an, welchem Begriff von Antisemitismus man folgt. Man kann das auch ganz anders sehen: Der Historiker und Journalist Joseph Croitoru etwa erkennt lediglich in einer einzigen Figur auf dem Taring-Padi-Banner „People’s Justice“ eine klar antisemitische Bildsprache.

Nach den Preview-Tagen war die „Guernica Gaza“-Serie in den Besprechungen der großen Zeitungen nicht als antisemitisch aufgefasst worden. Hier ist ein entscheidender Punkt, ob der Begriff „Guernica“ nach dem berühmten Picasso-Gemälde symbolisch für die Barbarei eines jeden Krieges steht oder seine Verwendung eine Gleichsetzung der israelischen Streitkräfte mit Nazi-Truppen vornimmt.

Wie kommt die fachwissenschaftliche Begleitung zu ihrem Urteil? Das Gremium legt seinem Urteil die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zugrunde. Demnach tarnt ein „israelbezogener Antisemitismus“ Hass und Feindschaft gegenüber Juden durch eine Art „Kommunikation über Bande“ als Kritik an Israel, das als Stellvertreterkollektiv angegriffen wird: Gegen Juden gerichtete Feindbilder werden auf den jüdischen Staat übertragen, Israel wird als machtvoll, böse, imperialistisch identifiziert, dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen.

Die 2021 erarbeitete Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) sieht das zu weit gefasst: Legitime Kritik an Israel, etwa an der Besatzung palästinensischer Gebiete, werde ungerechtfertigterweise als antisemitisch diskreditiert. Es sei ein Fehler der Geschäftsführung gewesen, so der Bericht, gar keine Definition zur Grundlage von Entscheidungen zu nehmen.

Enthält der Bericht Überraschungen? Durchaus. So geht er auch auf antiisraelische Werke auf früheren documenta-Ausstellungen ein. Dazu zählt die „rhetorische Einbettung“ von Peter Friedls „The Zoo Story“ bei der documenta 12 – die beliebte ausgestopfte Giraffe „Brownie“ 2007 in der documenta-Halle. Das Tier war während eines israelischen Angriffs in einem Zoo im Westjordanland gestorben.

Keine Erwähnung habe gefunden, dass Brownie das Geschenk eines israelischen Zoos war, dass die zweite Intifada im Gang war, es regelmäßige Terroranschläge auf israelische Zivilisten gab und die Terrororganisation Hamas den Ort verwaltete.

Äußern die Wissenschaftler auch irgendetwas Positives über die d15? Ja, im Kapitel über das kuratorische Konzept werden die faszinierende Vielfalt, hervorragende und ästhetisch tief beeindruckende Werke, die Publikumsorientierung sowie die regionale Verankerung gewürdigt. Von Anfang an habe es aber auch eine Frontstellung gegeben – „Make friends not art“ habe bedeutet: „Teilst du unsere Werte, bist du unser Freund.“

Letztlich sei Ruangrupa seinem „de-kolonialen“ Anspruch der Multiperspektivität und Inklusivität nicht gerecht geworden, weil unter den vielstimmigen künstlerischen und aktivistischen Positionen jüdische Perspektiven komplett fehlten. Der mutige Ansatz, institutionelle Grenzen zu sprengen und in einem „kuratorischen Schneeballkonzept“ Räume für unkontrollierte, offene Prozesse zu schaffen, sei letztlich gescheitert: „Fraglos gehört das produktive Scheitern zur Kunst und wird die documenta fifteen als wichtiges Format in die Geschichte eingehen.“

Von Ruangrupa „zumindest gebilligt“: Plakate zum Abschluss der documenta fifteen – wie hier am Standort Hafenstraße 76.
Von Ruangrupa „zumindest gebilligt“: Plakate zum Abschluss der documenta fifteen – wie hier am Standort Hafenstraße 76. © Mark-Christian von Busse

Was sagt der Bericht zum kuratorischen Konzept? Ruangrupa habe trotz des Wunsches, Verantwortung und Kontrolle abzugeben, nicht auf die kuratorische Gesamtverantwortung verzichten können. Die Gruppe habe sich zwar zunehmend abgeschottet, aber dieses Prinzip der „organisierten Verantwortungslosigkeit“ nicht durchgehalten – und auch nicht durchhalten wollen, sondern teilweise eine „konsequente Kontrolle“ und „sogar recht straffe inhaltliche Führung“ ausgeübt.

Entgegen allen Beteuerungen, es gebe keinen Boykott Israels auf der documenta, und bei aller Empörung über vermeintlich unberechtigte Antisemitismusvorwürfe, habe das Kollektiv die Plakataktion in den letzten Ausstellungstagen mit einem Bekenntnis zur BDS-Bewegung – die zum Boykott Israels aufruft – „mindestens gebilligt“.

Gehen die Experten auch auf den Rassismusvorwurf von Ruangrupa ein? Der Bericht verkennt nicht, dass „die auch für uns wahrnehmbaren rassistischen Untertöne eines Teils der Kritik an Ruangrupa“ eine wissenschaftliche Aufarbeitung verdienen, die an anderer Stelle geleistet werden müsse. Das Verhältnis von Antisemitismus und postkolonialer Kritik bedürfe einer offeneren und sachlicheren Diskussion, als sie die Öffentlichkeit derzeit zu liefern vermag.

Die Autoren des Abschlussberichts zur documenta fifteen

Dem Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen gehörten an:

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