1. Startseite
  2. Kultur

Kasseler Professor: „Es braucht einen Aufschlag, der sitzt“

Erstellt:

Von: Mark-Christian von Busse

Kommentare

Der Soziologe Heinz Bude gehört zu den Professoren, die der Uni Kassel mediale Strahlkraft verliehen haben. Jetzt hält er seine Abschiedsvorlesung.

Kassel - Mit Sachbüchern wie „Die Gesellschaft der Angst“ und „Die Ausgeschlossenen“, in Interviews und sogar einem Roman über die Berliner Hausbesetzer-Szene der 80er-Jahre („Aufprall“). 2006 war Bude in Kassel Gastgeber des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Jetzt ist seine Zeit an der Uni Kassel beendet – am Mittwoch hält er seine Abschiedsvorlesung. Den Vertrag als Direktor des documenta-Instituts hat er noch einmal bis Jahresende verlängert. Im Gespräch erläutert er die Gründe, und er nimmt Stellung zur Situation der documenta.

Herr Bude, diese Woche steht Ihre Abschiedsvorlesung an. Stimmt Sie das wehmütig?

Ehrlicherweise nicht, weil ich noch voll im Geschirr bin. Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, innerlich auf doch immerhin 23 Jahre zurückzuschauen, die ich jetzt an der Universität verbracht habe. Wehmütig? Besser dankbar. Ich würde gern wie beim Abspann eines Films im Kino allen danken für eine tolle Zeit und niemanden vergessen. Was ich vermissen werde, ist die Vorlesung, die ich nicht als Lehrbuchersatz, sondern als Bildungserlebnis verstanden habe.

 xkhx Kassel Rotunde des Fridericianum Pressekonferenz Prof. Dr. Heinz Bude zum Gründungsdirektor des document
Der Soziologe Heinz Bude gehört zu den Professoren, die der Uni Kassel mediale Strahlkraft verliehen haben. Jetzt hält er seine Abschiedsvorlesung.  © Peter Hartenfelser via www.imago

Ist Ihnen Kassel ein Stück ans Herz gewachsen?

Absolut. Zumal ich miterlebt habe, wie sich die Stadt grundsätzlich geändert hat. Als ich im Jahre 2000 nach Kassel kam, hatte ich das Gefühl, in eine depressive Stadt gekommen zu sein. Da war gerade das Transrapidprojekt gescheitert, ich traf überall auf Leute, die glaubten: Wir werden hier vergessen, die Maueröffnung ist uns überhaupt nicht zugutegekommen, wir werden nie von einer Stadt im Zonenrandgebiet zu einer Stadt in der Mitte Deutschlands werden. Das ist ganz anders geworden. Welche Stärke die Stadt gewonnen hatte, ist mir klar geworden, als SMA ins Stottern geriet. Das hat die Wirtschaft in der Region, das haben die Leute hier weggesteckt. Es hat sich ein stabiles postindustrielles Cluster um Kassel herum entwickelt. Das habe ich sehr gerne miterlebt.

Bestandteil der Kasseler Identität ist ganz stark die documenta. Sie haben Ihren Vertrag als Direktor des documenta-Instituts noch einmal verlängert. Haben Sie das Gefühl, an dieser Stelle Ihren Auftrag noch nicht erledigt zu haben?

Genauso ist es. Zwei Dinge müssen unbedingt noch passieren in der Zeit, in der ich diesen Vertrag habe. Erstens muss das Institut als eine unabhängige Forschungseinrichtung auf eigene Beine gestellt werden. Dann kann es ganz anders vom Land und vom Bund gefördert werden. Das Zweite ist die Beteiligung des Instituts an einem documenta-Zentrum. Da wollen wir einen produktiven Beitrag leisten. Es braucht eine Idee, dann finden sich ein Platz und ein Gebäude. Wie sehr die Stadt eines solchen Impulses bedarf, merkt man, wenn man mit offenen Augen durch die die Innenstadt geht. Es geht weder um einen Blickfang noch um einen Info-Kasten, sondern um einen Ort, in dem sich die Stadt wiedererkennen kann. Kassel ist eine Universitätsstadt, eine Verwaltungsstadt, eine Einkaufsstadt, eine Kongressstadt, eine Industriestadt, eine Vergnügungsstadt, eine Migrantenstadt, eine Ausflugsstadt und die documenta-Stadt. Diese vielfältigen sozialen Energien streben irgendwie nach Ausdruck.

Was wäre Ihre ideale Vorstellung eines solchen documenta-Zentrums?

Ich würde es wunderbar finden, wenn wir einen Ort hätten, zu dem Leute hinkommen würden, auch wenn sie sich nicht für die documenta direkt interessieren. Also ein städtischer Ort mit Aufenthaltsqualität, der gleichzeitig die Realitäten Kassels widerspiegelt. Ein documenta-Zentrum darf Forschung nicht nur beherbergen, sondern muss sie in die Stadt bringen. Es geht daher nicht nur um die Ausstellung von documenta-Geschichte, sondern um die Wahrnehmbarkeit eines documenta-Erbes.

Es ist schon viel über mögliche Standorte diskutiert worden. Haben Sie einen Favoriten?

Nein, habe ich nicht. Das Ruruhaus hat sich sehr gut eingefügt in das städtische Ensemble, finde ich. Es war so etwas, was ich mir vorstelle – diese Ecke mit dem Café war ein städtischer Verdichtungspunkt, der sehr schön war, sehr belebt. Das könnte etwas sein, was der Innenstadt guttut. Aber ich kann mir auch einen anderen Standort vorstellen, der gar nicht so repräsentativ ist. Das würde einem bestimmten Verständnis von Gegenwartskunst entgegenkommen, die nicht auf Repräsentation, sondern auf Einbeziehung und Teilhabe aus ist. Aber das ist ein offener Prozess, in den nach der letzten OB-Wahl wieder Bewegung gekommen ist.

Es gibt viele Baustellen rund um die documenta. Sehen Sie im Abschlussbericht der „fachwissenschaftlichen Begleitung“ eine gute Grundlage, um über Strukturreformen zu sprechen?

Im Sinne der Klärung der Situation auf der documenta 15 ja. Aber ich bin der Auffassung, dass wir im Sinne des institutionellen Settings eigentlich gar nichts ändern können. Wir können nicht die Autonomie der Findungskommission und die Autonomie der kuratorischen Leitung abschaffen. Das würde das Modell documenta kippen. Nötig ist allerdings, eine innere Vertrauensstruktur innerhalb des gesamten documenta-Komplexes aufzubauen, damit sowohl die dort Tätigen als auch das städtische Umfeld das Zutrauen haben können, dass dort wieder etwas Gescheites passiert. Man kann verspieltes Vertrauen nur durch Freundlichkeit, Beharrlichkeit und Gesammelt-heit zurückgewinnen, nicht durch die Markierung roter Linien. Das bringt in der großen wie in der kleinen Politik nichts.

Zurzeit wird diskutiert über das Rollenverständnis der Geschäftsführung gegenüber der künstlerischen Leitung. Wie bewerten Sie diese Zuweisung einer „Letztverantwortung der öffentlichen Hand“ an den Geschäftsführer?

Ich finde das keine glückliche Diskussion, weil ich glaube, dass sie von der entscheidenden Frage wegführt. Sie können eben nicht Vertrauen durch Kontrolle schaffen. Es braucht jetzt eine behutsame Praxis des Zusammenwirkens, die zeigt, was geht und was nicht geht. Das kann allerdings nur durch den Einbau von mehr Reflexivität in den gesamten documenta-Komplex gelingen. Dass man Entscheidungen rückbindet an Leute, die sich mit der Sache auskennen, und zwar auf allen Ebenen von Entscheidungsprozessen. Da könnte das documenta-Institut eine gewisse Rolle spielen. Als reflexiver Sparringpartner, den man immer wieder zurate ziehen kann, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, beispielsweise bei der Frage, wie sich eine kuratorische Leitung zu den Medien verhält oder wo sich Kunst mit der Politik anlegt. Reaktionsunfähigkeit wie im vorigen Sommer beschädigt die Marke.

Das klingt danach, als würden Sie einen Vorschlag aus dem Gutachten begrüßen: dass der Aufsichtsrat um echte Fachkompetenz bereichert wird, dass da nicht nur Kasseler Kommunalpolitiker und Vertreter des Kunstministeriums sitzen, sondern Leute, die sich im Kunstfeld wirklich auskennen.

Das ist richtig. Das sind grauen Eminenzen, die mit Geschick und Überblick im Hintergrund wirken. Die hat es in der Geschichte der documenta immer gegeben. Nur stellen die sich heute nicht von selbst ein. Das hängt mit dem Generationenwechsel im beteiligten Personal zusammen. Denken Sie an die politischen Parteien, an das documenta-Forum oder an die signifikanten Einzelpersonen aus der Stadt, die sich verantwortlich für die Sache fühlen. Da werden sich demnächst nicht nur die üblichen Verdächtigen zu Wort melden. Man muss sich auch klar machen, dass sich im Hintergrundkonsens der Stadt die Dinge verschoben haben. Die Stadt hat mit dem Weltkulturerbe auf der Wilhelmshöhe mit Bergpark, Schloss und Herkules einen zweiten kulturellen Schwerpunkt bekommen, der Publikum anzieht und für viele in der Stadt mit der Grimmwelt und anderen thematischen Museen ein Identitätsmerkmal neben der documenta darstellt. Da kann man mit seinen Freunden und Bekannten hin, ohne, wie man heute sagt, kunstaffin zu sein. Diese implizite Konkurrenz schafft eine gewisse Beweglichkeit und Freiheit zu dem beherrschenden Identitätskomplex der documenta, was die Verlustängste, die bei der fifteen offenbar eine Rolle gespielt haben, mindern kann.

Stattdessen hört man tatsächlich nur diese ja unangebrachte Furcht, die documenta könne Kassel weggenommen werden

Und das ist wirklich abwegig. Das große Geheimnis der documenta ist die Serie. Bei der nächsten Ausstellung wird alles anders. Von dieser Erwartung lebt die documenta.

Vieles hängt in der Schwebe, sowohl was einen möglichen Neubau des Instituts betrifft, als auch die Strukturen der documenta. Was ist denn Ihre konkrete Erwartung an den neuen Oberbürgermeister und den neuen documenta-Geschäftsführer?

Es müssen sich Beteiligte zusammenfinden, die ein vitales Interesse an dem Projekt documenta haben. Aus der gGmbH, aus der Stadt, vielleicht auch aus der Universität, jemand Externes möglicherweise, um in einem relativ kleinen Kreis zu überlegen, wie eigentlich ein solches documenta-Zentrum in der städtischen Welt positioniert werden kann. Also nicht größtmögliche Beteiligung, sondern konzeptionelle Fokussierung. Das ist sicher nicht so ganz einfach, weil sich manche Person, die sich berufen fühlt, nicht berufen wird. Dafür kann man sich freilich nicht ewig Zeit nehmen, das Publikum verlangt jetzt zu Recht einen Aufschlag, der sitzt

Für Sie ist unabdingbar, dass das Institut auf eigene Füße gestellt wird und nicht unter dem Dach der documenta selbst forschen soll?

Genau, weil es dadurch seine Unabhängigkeit von ihrem Gegenstand markiert. Es steht nicht unter „Markenwacht“, was vorher immer eine Rolle spielt. Als unabhängige Einrichtung kann es viel besser einen Beitrag zur Konzipierung eines Zentrums und auch für die Frage des Aufbaus einer Vertrauens- und Kooperationsstruktur innerhalb des gesamten documenta-Komplexes leisten. In wissenschaftlicher Freiheit und mit öffentlicher Verpflichtung.

Glauben Sie, die Debatten der documenta fifteen werden wie ein Schatten über der nächsten Ausstellung liegen oder wird ein Neustart möglich sein?

Es gibt mit jeder documenta einen Neustart. Das wird auch 2027 der Fall sein. Die nächste Ausstellung wird, so vermute ich, die Frage nach der Gegenwärtigkeit von Gegenwartskunst aufwerfen. Die Öffnung für den globalen Süden ist jetzt schon Geschichte. Es gibt den Hegemoniekonflikt zwischen China und den USA, es gibt Akteure, die auftauchen, wie Nigeria, und solche, die wegbrechen, wie Russland. Es gibt die Unklarheit, was Europa betrifft. Das sind Fragen, die eine ungeheure Herausforderung für die Gegenwartskunst darstellen. Ich glaube, das Wesen der documenta war immer, dass sie für die Besucherinnen das Gefühl von Zeitgenossenschaft erzeugt hat: In welcher Zeit leben wir eigentlich und welche Genossenschaft brauchen wir, um unsere eigene Zeit zu verstehen? Die nächste documenta muss diese Frage mutig angehen. Dann könnte das eine große Sache werden.

Ist Ihnen als Soziologe manchmal mulmig zumute, angesichts der vielen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind? Werden wir als Gesellschaft das alles bewältigen können, was vor uns liegt – Krieg in Europa, Klimakrise, Migration, die Demokratien unter Druck?

Sagen wir es mal so: Ich mag keine Optimisten, die sich immer alles schönreden. Das ist eine Zwangshandlung. Ich bin im Blick auf unsere Welt überhaupt nicht optimistisch. Ich sehe das Land in einem verfahrenen Zustand. Wir beschäftigen uns mit Fragen, die sonst kaum jemanden auf der Welt interessieren. Ich würde auf Englisch sagen: „Hope without optimism.“ Das ist meine Haltung.

Sie haben Ihre Abschiedsvorlesung „Abschied von den Boomern“ betitelt. Was geht verloren, wenn die Boomer abtreten?

Ein gewisser experimenteller Geist. Die Boomer waren eine Generation, die von Anfang an immer zu viele waren. Es ist die Generation, die weiß, dass immer alles weitergeht, und trotzdem das Gefühl hat, dass auch alles schief gehen kann. Wenn diese Doppelheit im Denken verloren geht, weiß ich nicht, wie wir mit den Problemen, die uns alle bedrängen, zurande kommen sollen.

Neuer Geschäftsführer der documenta in Kassel: „Für alles zuständig außer Kunst“

(Mark-Christian Von Busse)

Auch interessant

Kommentare