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Furios in den Untergang: Schauspielerisch eindrucksvolle Theaterpremiere

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Theateraufführung Der Kirschgarten Anton Tschechow am Staatstheater Kassel. Zu sehen sind Gutsbesitzerin Ranewskaja (Annett Kruschke, von links), Diener Firs (Eva-Maria Keller), Tochter Anja (Katharina Brehl), Bruder Gajew (Hagen Oechel), Kontorist Epichodow (Sandro Sutalo), Student Trofimow (Marcel Jacqueline Gisdol) und Stieftochter Warja (Lisa Natalie Arnold)
Ganz schön viel los hier: Gutsbesitzerin Ranewskaja (Annett Kruschke, von links), Diener Firs (Eva-Maria Keller), Tochter Anja (Katharina Brehl), Bruder Gajew (Hagen Oechel), Kontorist Epichodow (Sandro Sutalo), Student Trofimow (Marcel Jacqueline Gisdol) und Stieftochter Warja (Lisa Natalie Arnold) in „Der Kirschgarten“. © Isabel Machado Rios

Tschechow: einschläfernd. Eine Gesellschaft, die sich in endlosem Palaver verliert: Das ist das Vorurteil, mit dem Regissseur Jan Friedrich bei seiner Inszenierung von Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ spielt.

Kassel - Jan Friedrich, dessen Inszenierung von „Der Kirschgarten“ am Samstagabend im nicht ganz ausverkauften Kasseler Schauspielhaus mit großem Beifall aufgenommen wurde, spielt anfangs mit diesem Klischee. Dann aber bietet er überdrehte, ungestüme zweieinhalb Stunden Tschechow, die alles andere sind als: langweilig.

Die Auftaktszene ist auf den transparenten Vorhang projiziert, das Geschehen rückt dem Publikum sogleich dicht auf die Pelle – mit der ersten von vielen Videoübertragungen (Live-Kamera: Samuel Nerl). Die Dienerschaft befindet sich im behaglichen Nickerchen. Aber mit Gutsbesitzerin Ranewskaja, die das Personal nach fünf Jahren Paris erwartet, wird auf das Anwesen, wo schön wie jedes Jahr die Kirschen blühen, lautes, wildes Leben zurückkehren: Party, Billard, Klavierspiel, eine kleine Jam-Session. Vieles passiert gleichzeitig, wird durch die Kamera noch verdoppelt. Wie Gas geben im Leerlauf: Niemand kommt vom Fleck. Starke Momente gibt es besonders, wenn der hochtourig laufende Motor mal zum Stillstand kommt, sich die Inszenierung ganz auf die Kraft des Dialogs verlässt.

Alle tragen eine einheitliche zweite Haut aus kirschblütenfarbenem Stoff, die Gesichter sind genauso grell-rosa geschminkt (Kostüme: Jan Friedrich). Doch gewinnt das gesamte, großartige Ensemble Konturen bis in jede Nebenrolle hinein – wie etwa beim verarmten, verzweifelt bettelnden Gutsnachbarn, den Michael Dario Schütz, Gast von der Hochschule Hannover, als vordergründig gemütlich-kölsche Willy-Millowitsch-Figur anlegt.

Annett Kruschke ist eine schrille, bis ins Hysterische aufgekratzte Ranewskaja. Alles Unangenehme blendet sie aus. Hauptsache, es gibt eine schöne Tasse Kaffee. Ihr Bruder Ganew (Hagen Oechel), der das Geld nur so verschleudert hat, gefällt sich mit Fellmantel, bloßem Oberkörper und Cowboyhut. Lopachin (Marius Bistritzky), dem „Bäuerchen“ von ehedem, der als Selfmademan reich geworden ist, kommt die unangenehme Aufgabe eines hartnäckigen Warners zu: Das Gut ist überschuldet, die Zwangsversteigerung steht bevor.

Auswege werden mehr erträumt denn erwogen, während sich das Haus weiter und weiter dreht (Bühne: Alexandre Corazzola). Eine Lösung wäre: den Kirschgarten abzuholzen, das Areal zu parzellieren, Sommerhäuser zu errichten und zu verpachten. Die Zeit verrinnt, sie drängt, allein, der Kaufmann dringt mit dem Appell, endlich zu handeln, eine Entscheidung zu treffen, nicht durch.

Um weiterzuleben, zu überleben, riskieren wir die Grundlagen des Lebens überhaupt. Jan Friedrich, Jahrgang 1992, der zum ersten Mal in Kassel inszeniert und Tschechows letztes Stück durch eigene Texte ergänzt hat, hält einer Welt den Spiegel vor, die die dramatischen Ausmaße der Klimakatastrophe noch immer nicht wahrhaben will. Eine Lesart, für die schon die Vorlage den Impuls geben kann: „Ich kann unser Klima nicht billigen“, heißt es zu Beginn, „unser Klima kann so nicht zuträglich sein.“

Auch der als ewiger Student verachtete Trofimow (Marcel Jacqueline Gisdol) wird als eher leiser Intellektueller nicht gehört. Er zitiert den biblischen Schöpfungsauftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, sowie die Geschichte der Arche Noah. Nach uns die Sintflut, genau das ist hier die Devise.

Am Ende, das Gut liegt mittlerweile unter Geschützdonner, ein Soldat ist über die Bühne gerannt, greift bei der Auktion in Charkiw nicht der reiche Lopachin zu. Firs, der rückwärtsgewandte, greise Diener („ich lehne die Freiheit ab“), brillant gespielt von Eva-Maria Keller, ersteigert das Grundstück. Seine Rede, mit der er das Ende des Hedonismus verkündet, ist fast ein bisschen voraussehbar und lapidar. Die ganze selbstgewisse, träge Gesellschaft aber steht nun konsterniert draußen, vor dem Vorhang. Keiner hatte die Kraft, das Ruder rumzureißen. Die Motorsägen werden angeworfen.

Nächste Termine am 25., 27. Mai, 1., 18., 19., 25., 28. Juni. Karten: Tel. 0561/1094-222, staatstheater-kassel.de

Von Mark-christian Von Busse

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