Empörte Besucher, beinahe Tumulte: Partizipative „Zauberflöte“ funktioniert in Kassel nicht
Kurz vor der Pause kam es beinahe zu Tumulten: In Kassel feierte die „Zauberflöte“ Premiere. Sie sollte partizipativ sein – sorgte aber für Buh-Rufe.
Kassel – „Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren“ singt Maximilian Mayer als Tamino, als er von der Schlange bedroht wird. Zu seinem Glück kommen alsbald Margrethe Fredheim, Maren Engelhardt und Marta Herman als Drei Damen und retten ihn vor dem auf- und zuklappenden Maul des riesigen Tieres. Wolfgang Amadeus Mozarts berühmteste Oper „Die Zauberflöte“ beginnt im Kasseler Opernhaus nicht mit der Ouvertüre, sondern direkt mit dieser Szene – und schon wenig später haben sich die Besucher ebenfalls verloren gefühlt und am liebsten mit Tamino „Ach rettet mich, ach schützet mich“ ausstoßen wollen.
Mit einem Buh-Sturm für das Regieteam aber auch mit kräftigem Applaus, der zum Teil im Stehen dargebracht wurde, ist am Samstag die Premiere des „Partizipativen Musiktheaters nach der gleichnamigen Oper“ zu Ende gegangen. Kurz vor der Pause war die Stimmung im Parkett so aufgeladen und gereizt, dass es beinahe zu Tumulten gekommen wäre. Empörte Besucher machten ihrem Unmut mit Zwischenrufen Luft („Aufhören!“).

„Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater: Stimmung kippte
Die Regisseure Barbara Frazier und Florian Lutz zeigen Mozarts märchenhafte Oper nicht als Musiktheaterstück, sondern sie inszenieren einen Abend, der zeigt, wie man aus einer Opernhandlung mit verschiedenen Regiezugriffen unterschiedliche Aussagen herausholen kann. Traditionelle oder moderne Frauenbilder, Blickwinkel, die die herrschende Ordnung stützen oder umstürzen. Das Publikum soll entscheiden – und wird allzu wortreich darüber informiert, was es mit den Konsequenzen auf sich hat. Katharina Brehl hatte die unangenehme Aufgabe, die ganze Sache als „Theatermacherin“ zu erklären – und wurde immer ungehaltener empfangen. Ihren Witz und Charme konnte sie nur selten aufblitzen lassen, da die belehrenden, viel zu langen Texte ihr in die Quere kamen. Die Stimmung kippte vollends, als eine Vorlesung mit Dias zur Geschichte des Blackfacing eingebaut wurde, also jener veralteten, rassistischen Konvention, mit der ein weißer Mensch durch Anmalen eine Figur mit dunkler Haut dargestellt hat.
Hier liegt das gravierende Kernproblem des Abends. Unter der Fahne der Partizipation, des Ernstnehmens, wird das Publikum als erziehungsbedürftig adressiert. Man traut ihm offenbar nicht viel zu. Tatsächlich können Opernbesucher sehr wohl unterscheiden zwischen der Entstehungszeit im 18. Jahrhundert und der Gegenwart.

„Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater: Mitklatschen wie beim Karneval-Hit
Auch an der Stelle, wo der Saal mitsingen soll, zeigt sich das. Bei Papagenos „Ein Mädchen oder Weibchen“ schwenkt Katharina Brehl auffordernd die Arme zum Mitklatschen, wie bei einem Karnevalshit. Klar, die Besucher kennen und lieben so eine Arie – aber ihr Bedürfnis ist doch gerade, sie im Zusammenhang mit einer stimmigen Inszenierung zu sehen, und nicht behandelt zu werden, als sei man mit einem Mitklatsch-Hit zufriedenzustellen.
Anfangs führt Brehl in die Aufführungsmöglichkeiten ein: traditionell, als Regietheater oder als performatives Theater, das die Persönlichkeiten der Akteure aufscheinen lässt. In Szenenbeispielen lässt sich eine Umsetzung besichtigen, dann soll das Publikum abstimmen. Am Samstag votierte es fürs Traditionelle. Es bekam ein Kitsch-Ägypten mit Wallegewändern und zeremoniellem Getue von Sarastros Gefolge (Ausstattung: Mechthild Feuerstein). Alles aber wiederum derart übertrieben und fast überheblich aufbereitet, dass das Ergebnis unangenehm berührt. Das Publikum ernstzunehmen im partizipativen Grundgedanken würde anders aussehen. Dann würde man ihm nämlich zugewandt und seriös eine künstlerisch durchgearbeitete Operninszenierung präsentieren. So aber bleibt der Verdacht, dass das Regieteam eben doch paternalistisch auf die Besucher blickt.
Ein geplanter Auftritt der russischen Opernsängerin Netrebko bei den Wiesbadener Maifestspielen sorgt für Diskussionen. Der Intendant spricht von „Moralhysterie“. Die Stadt empfiehlt dagegen eine Ausladung – aus Solidarität mit der Ukraine.
„Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater: Inszenierungsversionen über-ironisiert präsentiert
Die anderen beiden Inszenierungsversionen waren ebenso über-ironisiert präsentiert worden: hier Königin der Nacht als Furie mit Kippe in der Hand, dort an der Rampe aufgereihte Darsteller, die in Mikros sprechen. Alle drei Inszenierungsstile werden also nicht ernst genommen. Ebenso gravierend: Es steckt keine künstlerische Idee in ihnen – die Verantwortung wird diffus ans Kollektiv zurückgespielt. Diese Haltung im Kulturbetrieb ist offenbar gerade en vogue.
Eins ist klar: Sicher wären die Besucher bereit, sich auf Ylva Stenberg einzulassen, die als Königin der Nacht eine Rächerin in blauer Lederkombi ist und ein Gemetzel unter Sarastros Mannen anrichtet – wenn es denn gut gemacht und künstlerisch gut begründet ist.
Hier aber wird mit dem Vertrauen der Musiktheater-Freunde gespielt. Das Publikum möchte vertrauen und den Theaterleuten auf und denen hinter der Bühne folgen auf einem Weg ins Stück hinein – zu Musikgenuss und vielleicht zu Erkenntnissen durch einen besonderen Regiezugriff. Durch die Weigerung, das Stück tatsächlich zu inszenieren (der ganze partizipative Kram und der nicht auf die Bühne gehörende Vortragsduktus einmal als unergiebig und als paternalistisch entlarvt), kann es jedoch keine Erkenntnisse geben.

„Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater: Umräumarbeiten statt Musikgenuss
Musikgenuss entsteht aber auch nicht, denn die Oper wird zur Nummernrevue gestutzt. Momentweise stellen sich atmosphärische Intensität und auch Schönklang ein, aber meist wird gleichzeitig die Bühne umgeräumt oder mittendrin durch eine Ansage unterbrochen, sodass auch hier ein Publikumsbedürfnis missachtet wird.
Unter den tapfer und engagiert mitgehenden Sängern ragen Clara Soyoung Lee als Pamina, die drei Knaben Julia Dreier, Kristina Katsagiorgis und Anna Huss, Ylva Stenberg als Königin der Nacht und Lars Rühl als Monostatos heraus. Kiril Stankow am Dirigentenpult gelingt es nur momentweise, Mozartzauber zu entfachen, die Klänge des Staatsorchesters zum transzendenten Abheben zu bringen. (Bettina Fraschke)
„Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater
Wieder am 1. und 3. März. Karten: 0561-1094-222, staatstheater-kassel.de