Staatstheater Kassel: Sie reden, lachen, weinen, stöhnen, schreien, sind grenzenlos albern
Hier bei dem Stück im Staatstheater Kassel sind Männer nur Zaungäste. Oder Ersatzmänner, zur Abwechslung mal ohne tragende Rollen.
Kassel - Sitzen am Bühnenrand und dürfen dem Geschehen als stumme Requisiten beiwohnen. Klappe halten und zuschauen. Ganz ungewöhnlich für den Mann.
Auf der Bühne neun Frauengestalten. Sie reden, lachen, weinen, stöhnen, schreien, sind grenzenlos albern, zu Tode betrübt, total überfordert, neidisch, einsam, geschlagen, schwanger, unfruchtbar, verliebt. Sie heißen Laura, Petra, Barbara, Lisa, Tina, Verena, Brigitte, Jolie und Emma und sind alle nach bunten Frauenzeitschriften benannt. Sie stecken in farblosen, also weißen, gesteppten, formlosen Gewändern und tragen putzige Käppchen, die nicht rot sind, sondern ebenfalls weiß.

Staatstheater Kassel: Anti-Heldinnen aus Jovana Reisingers gleichnamigem fulminantem Roman.
Wer denkt da nicht an Unschuldsengel, Feen, antike Göttinnen, Vestalinnen? Aber es sind „Spitzenreiterinnen“, Anti-Heldinnen aus Jovana Reisingers gleichnamigem fulminantem Roman, der 2021 erschien und einen ganz eigenen Sound hat: genau beobachtend, bitter sezierend, ironisch, böse, erschütternd und witzig.
Heike M. Goetze, freischaffende Regisseurin, hat ihn für das Kasseler Schauspielhaus adaptiert, Regie geführt, das karg-eindringliche Bühnenbild entworfen, die Kostüme kreiert. Samstagabend wurde ihre Inszenierung uraufgeführt. Entstanden ist ein dramatisches Gesamtkunstwerk mit einer kraftvollen Bildsprache und einem ganz besonderen Rhythmus, bei dem die Übergänge zwischen den Frauengeschichten fließend sind: eine rasante Mischung aus antikisierendem Drama, Performance (Musik: Fabian Kalker), modernem Sprechtheater und Groteske. Und nicht eine Minute langweilig. Das will was heißen, bei fast dreistündiger Dauer.
Auf der Bühne: Lisa Natalie Arnold, Iris Becher, Marie Bonnet, Annalena Haering, Annett Kruschke, Sarah Waldner und Christina Weiser. Sie sind alle großartig in ihren Rollen, die eigentlich keine sind. In ihren weißen Outfits ähneln sie einander ja sehr.
Staatstheater Kassel: Ohne Männer geht es wenigstens diesen Frauen besser
Sie verkörpern weniger Charaktere als Typen, Zustände, Befindlichkeiten, Lebensabschnitte: Diese wird heiraten, jene kriegt keinen Mann ab, dieser ist der Gatte gestorben und sie entdeckt das Leben neu, jene wird von ihrem Mann schwer misshandelt, diese wird einfach nicht schwanger, jene plötzlich schon, diese ist lesbisch, hat keine Lust mehr auf ihren sinnlosen Job und fängt neu an. Sowas passiert überall zu jeder Zeit, es aber so konzentriert vorgeführt zu bekommen, ist schon hart. Ohne Männer geht es wenigstens diesen Frauen besser, das scheint die Botschaft.
Goetze hält sich textlich eng an die Vorlage, kommentierende, erzählende Passagen werden beeindruckend synchron gesprochen wie von einem antiken Chor. Das ist höchst reizvoll, weil es die bitteren Erkenntnisse nicht nur verstärkt, sondern auch hervorhebt, dass sich seit tausenden Jahren zwischen den Geschlechtern nichts Wesentliches geändert hat.
Das Stück fordert heraus, es gibt kein Entkommen, es sei denn, man geht einfach nach Hause. Nach der Pause blieben tatsächlich etliche Plätze leer. Ja, die „Spitzenreiterinnen“ sind unbequem, laut, schrill, albern, lustig und kompromisslos. Das muss man aushalten.
Staatstheater Kassel: Da dürfen dann die Männer endlich auf die Bühne
Am Ende wird es – da weicht Goetze von der Vorlage ab – doch noch schön versöhnlich: Da dürfen dann die Männer endlich auf die Bühne, auf der sie ja auch sonst so gerne stehen. Langer Applaus, Ovationen im Stehen.
Wieder am 31. Mai, 3., 9., 28. Juni, 14. und 21. Juli, Karten: Tel. 0561/1094-222, staatstheater-kassel.de
(Andreas Gebhardt)