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Kasseler Uraufführung im Tif: Der Nachbar ist der größte Feind

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Im Kasseler Theaterstück auf der Bühne des Tif ist die Welt ein Schlachtfeld: Lisa Natalie Arnold als Edith „Eddie“ Michel (links), Hagen Oechel (Wasja Meyer) und Annalena Haering (Vivien).
Die Welt ist ein Schlachtfeld: Lisa Natalie Arnold als Edith „Eddie“ Michel (links), Hagen Oechel (Wasja Meyer) und Annalena Haering (Vivien). © Isabel Machado Rios

Dirk Laucke hat sich mit seinem neuen Stück „Auf Wache“ abermals eines drängenden politischen Themas angenommen. Es geht indirekt um die Ausbeutung von Saisonarbeitern auf deutschen Spargelfeldern und ganz direkt um die Macht-Attitüden ihrer Aufseher.

Kassel Geht der Spargel-Magnat pleite, haben alle das Nachsehen, auch die, die mit Schlagstöcken herumfuchteln, Schusswesten tragen, auf dicke Hose machen und sich für etwas Besseres halten. „Auf Wache“ ist eine Auftragsarbeit des Staatstheaters und hatte am Freitag, inszeniert von Lars-Ole Walburg, Uraufführung im Tif.

Edith „Eddie“ Michel (Lisa Natalie Arnold), Wasja Meyer (Hagen Oechel) und Vivien (Annalena Haering) schleichen, laufen, stolpern, tänzeln und straucheln über den Bühnenboden, auf dem ein grüner Kunstrasenteppich ausgerollt ist, der vielleicht das Spargelfeld sein soll. Sie singen und schmieren sich auch mit Kunstblut ein. Die Musik von Felix Stachelhaus mit wummernden Elektrosounds und alsbald ironisch verfremdeter „Lindenstraßen“-Titelmelodie ist immerhin großartig. Eine gute Idee ist der von der Decke hängende Metallrahmen vorne, der die wackelige Situation zu symbolisieren, scheint, wenn die drei auf ihm versuchen, das prekäre Gleichgewicht zu halten (Bühne: Lars-Ole Walburg).

Edith und Wasja sind auf Wache. Bürgerkrieg, Suizid, Katastrophen aller Art gehen Wasja durch den Kopf. Die Welt ist ein Schlachtfeld, sein Job ist die Ordnung, auch auf dem Spargelacker. Rumänische Fremdarbeiter als Bedrohung, dein Nachbar ist dein größter Feind, nicht etwa der Klimawandel oder die Umweltverschmutzung.

Zur Verteidigung im Ernstfall dient ihm eine Knarre aus dem 3D-Drucker. Der Spinner ist so etwas wie ein Prepper und faselt wirres Zeug. Edith wundert sich. Ein fast schon komisches Duo geben die beiden ab. Aber mehr eben auch nicht.

Vivien schleicht die meiste Zeit um sie herum und man wundert sich, warum sie überhaupt da ist, bis es knallt und sie ganz viel Kunstblut im Gesicht hat. Aha, das Opfer.

Vor hundert Jahren wäre daraus vielleicht ein mehr oder weniger rührseliges naturalistisches Drama oder eins in Agit-Prop-Manier geworden: Hier die armen Ausgebeuteten, da die Aufseher und die so bösen wie fetten Kapitalisten. Man hätte das Theater verlassen mit einer Portion Wut im Bauch und durchdrungen von der Gewissheit, dass es so nicht weitergehen darf: Macht kaputt, was euch kaputt macht.

Im modernen Sprechtheater geht es natürlich nicht mehr so platt-plakativ zu, sondern eben feinsinniger. Leider fragt man sich anschließend: „Na und?“ Die drei Figuren auf der Bühne berühren nicht. Sicher, sie sagen Dinge, die sehr wahr sind, keine Frage, aber sie reißen einen nicht mit, weder emotional noch verstandesmäßig. Auf Spargel verzichtet danach niemand, es sei denn man mag sowieso keinen. Sollte man über diesen komplexen Stoff nicht besser eine gut recherchierte Reportage verfassen oder drehen? Langer Applaus.

staatstheater-kassel.de

Andreas Gebhardt

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