Kafka in Kassel - Im Theater wird gefragt: Wer ist hier das Ungeziefer?

Viel Applaus gab es für Stef Lernous Bearbeitung von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ am Wochenende im Kasseler Staatstheater. Vor allem die Optik beeindruckte.
Kassel – Das Miteinander in Familien ist bisweilen so eng und überhitzt, dass die Nähe erdrückt. Dann fangen Beziehungen an zu müffeln, als müsse die traulich eingewohnte Stube dringend gelüftet werden. Oder aber man zelebriert egomäßige Freiheit, setzt bei Familienbesuchen auf routinierte „Alles gut?“-Fragen und erstarrt in empathieloser Kälte. Beides kann Horror sein.
Das zeigt Franz Kafka mit seiner zeitlos gültigen Erzählung „Die Verwandlung“ (entstanden 1912). Darin wird ein gewisser Gregor Samsa ohne weitere Erklärung in ein „ungeheueres Ungeziefer“ verwandelt. Zunächst kann seine Familie das noch ertragen, bald lässt sie ihn aber verelenden und krepieren.
Im Kasseler Schauspielhaus haben der flämische Gastregisseur Stef Lernous (mit Isabell Heinke auch Kostüme), Bühnen- und Lichtdesigner Sven van Kuijk und Komponist Kreng den Stoff für die Bühne bearbeitet. Ihre beeindruckend detailreiche Szenerie ist ein visuell-akustisches Meisterwerk, das schon beim Öffnen des Vorhangs in den Bann zieht. Für die Premiere am Samstag gab es langen Applaus. Im Hintergrund eines Wohnzimmers mit Tisch, Sofa, Thermoskanne ragt ein schräger Glaskasten empor, der wie ein gigantisches Terrarium aussieht. Gregors Zimmer, er kann über eine Klappe versorgt werden. Gregor Samsa (Rahel Weiss) steht leicht erhöht, beobachtet Mutter, Vater, Schwester, ist aber ausgeschlossen.
Rahel Weiss – runde Metallbrille, zugeknöpftes Hemd, hochgezogene Schultern – umgibt ihre Figur mit einer unendlichen Einsamkeit, aus der sie Trauer, aber auch Momente inneren Friedens entstehen lässt. Manchmal schleicht sie in die Stube und setzt sich am Tisch vor eine Teetasse. Wie einst. Gregor Samsa ist ein Mensch – wer ist dann aber das Ungeziefer? Bei Stef Lernous sind es die Familienmitglieder. Deshalb betritt am Anfang Katharina Brehl wie ein Kammerjäger mit Schutzbrille und Arbeitsoverall die Szenerie. Mit Rauch aus einem Ghostbusters-Gerät qualmt sie das Zimmer ein.
Nach der Prozedur werden die Bewohner sichtbar. Spinnenartig, kakerlakenartig, haarig, unförmig, eklig. Kirsten Pieters und Johann Jürgens geben hier als insektige Eltern alles. Iris Becher als schratige Schwester Grete könnte weißgeschminkt und mit Bubikrägelchen auch aus der berühmten TV-Gruselsippe „Addams Family“ stammen. Als autoritärer Firmenvertreter, der Gregor holen und ihn kräftig einschüchtern will, taucht Marcel Jacqueline Gisdol im schwarzen Anzug mit überlangen Stelzenbeinen auf – wie eine Gottesanbeterin.
Allein unter Ungeziefer: eine verblüffende Regieidee. Besonders in den stillen, subtilen Momenten sorgt sie nicht nur für Nachdenklichkeit, sondern auch für viel Beklemmung, Gefühle von Schmerz, Unverbundensein. Dazu passen die düsteren Streicherklänge, elektronisches Gefrickel, unheimliche Sound-Akzente.
Manchmal driftet das ganze Horrorgetue allerdings in ein ziemliches Spektakel ab. Und es ist durchaus spürbar, dass dem Team krankheitsbedingt eine Woche Probenzeit gefehlt hat. Im zweiten Teil des 75-Minüters wirken viele Szenen noch ziemlich unausgereift.
Wenn Katharina Brehl ihre Schutzbrille hochschiebt, greift sie zu einem Büchlein, und rezitiert Franz Kafka. Sie nimmt einen Stift, schreibt einige Sätze auf, während sie sie spricht und sich dabei wie eine Feldforscherin in der Stube umsieht. Stef Lernous lässt den Autor sein Werk betrachten und Originaltext aufleuchten, teilweise auch aus dem Mund von Rahel Weiss. Es ist großartig, die Weltklasse-Worte in dieser Szenerie zu erleben, und es ist die richtige Entscheidung, dem Meisterwerk nicht selbst geschriebene Zeilen entgegenzusetzen. Die geflüsterten Passagen sollten allerdings noch deutlich lauter und damit besser verständlich werden – trotz Mikro ist das schwierig.
Schließlich findet am Ende vor den Augen des Publikums tatsächlich die Verwandlung einer Figur statt. In ein echtes Albtraumwesen mit viel Blut, fusseligen Haaren und einem schreiverzerrten Gesicht.
Karten: 0561/ 1094-222