So geht Blackbox-Gardening: Was wo sprießt, weiß die Natur allein

Wer nach dem „Blackbox“ Prinzip gärtnert und versamenden Pflanzen freie Bahn lässt, erlebt jedes Jahr neue Überraschungen: Die Kunst dabei ist, das Chaos zu kultivieren. Ganz nebenbei spart man viel Arbeit und lernt einiges über die Wechselwirkungen in der Natur.
Meist läuft es so: Man hat ein Bild vor Augen, wie ein Gartenbereich einmal aussehen soll, pflanzt Stauden und Gehölze und hofft, alles möge sich mit der Zeit wunschgemäß entwickeln – und von Dauer sein. Doch was wie und wo wächst bestimmt die Natur allein: Manche Pflanzen möchten gern dort sein, wo man sie hingesetzt hat, andere nicht – und völlig Unbekannte tauchen uneingeladen im Beet auf. In diesem Fall kann man sich ärgern über den frechen Vagabunden, dessen Samen von Wind oder Tieren herbeigetragen wurde. Oder, wenn er gefällt, sich freuen und beobachten, was aus ihm wird.
Das Spiel mit der Natur
Wer zu Letzterem neigt, hat sich fast schon eingelassen auf das spannende Spiel mit der unberechenbaren Natur – und dürfte am „Blackbox-Gardening“ seine helle Freude haben. Der etwas sperrige Anglizismus umschreibt das eng mit der Natur verbundene Prinzip des Gärtnerns mit versamenden Pflanzen. Eine Art blühendes Langzeitexperiment, das immer wieder in Erstaunen versetzt und bei dem Geduld, eine gute Beobachtungsgabe und etwas Pflanzenkenntnis gefragt sind. Schließlich läuft hier fast nichts nach Plan: Jede Pflanze sucht sich selbst ihren bevorzugten Platz und belohnt uns mit reicher Nachkommenschaft – wenn sie sich wohlfühlt. Nur wenn sie es allzu bunt treibt, wird eingegriffen. Ein Blackbox-Garten verändert von Jahr zu Jahr sein Erscheinungsbild. „Das Überraschende und Unerwartete“ ist an der Tagesordnung und für Jonas Reif, Professor für Pflanzenverwendung und Vegetationskonzepte an der Fachhochschule in Erfurt, der faszinierendste Aspekt beim Blackbox-Gärtnern – für Reif zudem genug Stoff für ein preisgekröntes Gartenbuch.

Es gibt Vor- und Nachteile
Hinsichtlich Nachhaltigkeit, Pflegeaufwand und Kosten biete diese naturnahe Art der Gartengestaltung viele Vorteile, erklärt Reif: „In der ersten Pflanzengeneration sind noch viele Arten und Individuen vorhanden, deren Vielfalt aber mit der Zeit deutlich abnimmt. Doch jene Pflanzen, die sich dauerhaft etablieren, sind an ihren Standort perfekt angepasst und somit sehr pflegearm. Der Nachteil: Bis die Vorteile deutlich sichtbar werden, braucht man eine gewisse Geduld und Toleranz für das sich ergebende Gartenbild – beides Eigenschaften, „die man gefühlt in der Gesellschaft leider immer weniger vorfindet“.
Dabei können selbst ungeduldige Gärtner auf diese Weise schnell Erfolge erzielen: Viele der besonders farbenfrohen Arten blühen schon im ersten oder zweiten Jahr. Weil von Natur aus kurzlebig, sind sie auf reichliche Vermehrung angewiesen. Und die gelingt am besten mit üppigem Blütenflor und sehr vielen Samen.
Die besten Anfängerpflanzen
Weil von einer Art jeweils nur wenige Stauden gebraucht werden, halten sich Aufwand und Kosten in Grenzen. Statt Frust über den Verlust womöglich kostbarer Pflanzen im „fertigen“ Beet überwiegt hier alle Jahre wieder die Freude über Unerwartetes und botanische Zufallskompositionen. Für den Anfang empfiehlt Reif, mit ein oder zwei Arten zu beginnen, um Erfahrungen zu sammeln: „Akelei, Königs- und Nachtkerzen sowie Patagonisches Eisenkraut sind gute Anfängerpflanzen.“ Auch für herrlich altmodische, aber fast vergessene Sommerblumen wie Jungfer im Grünen (Nigella) und Kalifornischen Mohn (Eschscholzia californica) ist der Blackbox-Garten wie geschaffen. Mit der Zeit gelingt es immer besser, die Sämlinge zu identifizieren und „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden – schließlich will man die Blumenkinder der neuen Saison nicht versehentlich als „Unkraut“ jäten.

Start mit Initialpflanzen
Das Blackbox-Prinzip selbst ist einfach: Einige „Initialpflanzen“ (Artikel unten), die sich generativ (also durch Aussamen) vermehren, werden im Frühjahr gepflanzt, dazu ein- und zweijährige Gartenblumen ausgesät. „Tendenziell eignen sich langlebige Pflanzen als Initialpflanzen besser als Samen, dies trifft zum Beispiel auf Lenzrosen (Helleborus) zu, wohingegen Ein- und Zweijährige direkt aus der Saatguttüte etabliert werden können“, empfiehlt Reif.
Initialpflanzen für jede Lage: Probieren statt Studieren
Fast alle Pflanzen, die sich mit Samen ausbreiten, sind geeignet fürs Experimentieren. Hier eine Auswahl an Initialpflanzen für unterschiedliche Gartenlagen:
Tiefwurzelnde, trockenheitsresistente Arten für Kiesbeete und Mauerfugen: Frauenmantel (Alchemilla mollis), Stockrose (Alcea), Spornblume (Centranthus ruber), Meerkohl (Crambe maritima), Spanisches Gänseblümchen (Erigeron karvinskianus), Walzen-Wolfsmilch (Euphorbia myrsinites), Prachtkerze (Gaura lindheimeri), Zottiges Habichtskraut (Hieracium villorum).
Reichblühende Arten für Blumenbeete und Staudenpflanzungen: Akelei (Aquilegia vulfaris),Glockenblume (Campanula persicifolia), Fenchel (Foeniculum vulgare), Gold-Wolfsmilch (Euphorbia epithymoides), Indianernessel (Monarda fistulosa), Salbei (Salvia nemorosa), Vexiernelke (Silene coronaria), Hanfblättriger Eibisch (Althaea cannabina), Hasenohr (Bupleurum longifolium), Stauden-Lein (Linum), Wiesenknopf (Sanguisorba).
Arten für den Halbschatten: Buschwindröschen (Anemone nemorosa), Kaukasus-Vergissmeinnicht (Brunnera macrophylla), Himalaya-Silge (Cortia wallichiana), Transsilvanischer Lerchensporn (Corydalis solida subs. transsyvanica), Alpenveilchen (Cyclamen), Christrose (Helleborus x hybridus), Mutterkraut (Tanacetum parthenium), Große Telekie (Telekia speciosa), Sprenger-Tulpe (Tulipa sprengeri – eine echte Rarität).
Manche Pflanzen wie das Ausdauernde Silberblatt (Lunaria redeviva) sollten gleich ausgesät werden, da sie in der Gärtnerei kaum zu bekommen seien. „Andere wie die Staudenbegonie (Begonia grandis var. evansiana) bekomme man de facto nur als Pflanze, aber die breitet sich im Garten schnell durch „Bulbillen“, das sind stecknadelkopfgroße Brutknospen, aus.
Erstaunlich selten biete der Handel vermehrungsfreudige Wildformen von Blumenzwiebeln an, etwa Winterling (Eranthis hyemalis) oder Elfenkrokus (Crocus tommasinianus). Statt mehr oder weniger sterile Sorten und Alternativarten zu kaufen, lohnt es sich laut Reif, „mit der Schaufel einige Exemplare aus fremden Gärten einzuladen und dann ihr Spiel daheim beginnen zu lassen.“ Um nicht nur vielfältige, sondern sogar neue Farben und Formen zu erhalten, sollte man möglichst viele Sorten einer Art pflanzen – gut seien hier Aster, Kerzenknöterich (Bistorta amplexicaule) oder Storchschnabel (Geranium).
So bereitet man dem Wildwuchs den Boden
Wer mit versamenden Pflanzen experimentieren möchte, muss nicht gleich den gesamten Garten sich selbst überlassen. Für den Anfang reicht ein Beet, für das aber etwas Vorbereitung nötig ist.
Standort und Boden analysieren: Ist es trocken/sonnig, feucht/schattig, Lehm/Sand.
Wurzelunkraut entfernen.
Humosen oder lehmigen Boden abmagern beziehungsweise auflockern mit Kieselsteinen/Split/Lavakies.
Einen Rahmen geben: Das „wilde“ Gartenbild mit Mauern, Hecken, Rasenflächen, Gehölzen oder anderen festen Elementen strukturieren.
Initialpflanzen (versamende Stauden) einsetzen und Samen für Ein-/Zweijährige Blumen (Farben und Wuchshöhe beachten) dazwischen ausstreuen (mit Namensschildchen zur Erinnerung). Später Lücken füllen und Abstände korrigieren. Es gibt auch Blackboxgarten-Starter-Pakete im Gartenfachhandel.
Geduld haben, beobachten, sich am Wandel erfreuen – weil nichts bleibt, wie es ist.
Ein Rahmen für die Wildnis
Bei aller Dynamik braucht auch die schönste Wildnis einen Rahmen: „Gestaltungselemente wie großformatige Platten, dunkle Steinmauern und immergrüne Hecken bieten sich als perfekte Kontrastpartner zu wilden, weichen Naturformen an“, erklärt Reif. „Je formaler die Grundstruktur, desto wirkungsvoller die vermeintliche Wildnis, die sie umspielt oder in Lücken Platz findet.“
Auch Wegnehmen ist nötig
Auch wenn Blackbox-Gärtner der Natur (beinahe) freien Lauf lassen möchten, gehört auch die Kunst des Wegnehmens dazu, meint der Experte. „Dies ist keine Tätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr, sondern etwas Kontinuierliches.“ Mit zunehmender Erfahrung wisse man: Wann lässt sich eine Pflanze am besten aus dem Boden ziehen? Wie groß wird sie? Wann blüht Sie? Man müsse sich da hineinfühlen und ausprobieren: „Das klingt viel schwerer, als es ist.“ Nur Mut.

Buchtipp: „Blackbox Gardening“ - das Spiel mit dem Chaos
Schade, dass der deutsche Titel „Blackbox Gardening“ im Gegensatz zum englischen „Cultivating Chaos“ etwas in die Irre führt, doch tut dies der ebenso fesselnd wie fundiert geschriebenen Praxisanleitung für das spannendeste Gartengestaltungskonzept der letzten Jahre keinen Abbruch. Auch wer keinen grünen Daumen hat, wird bei der Lektüre bald merken, wie aufregend es sein kann, im Garten etwas Kontrolle abzugeben, genauer hinzusehen und zu lernen, wie die Natur „ihr Ding“ macht. Die Autoren erklären anschaulich anhand unterschiedlichster Gartensituationen, wie das Spiel mit dem Chaos gelingt, wie man sein individuelles Blackbox-Experiment mit ausgewählten Pflanzen richtig vorbereitet, ehe den streunenden Pflanzenvagabunden (eine Liste im Anhang stellt Arten für jede Gartenlage vor) das Feld überlassen wird. Nicht zuletzt die stimmungsvollen Fotos von Jürgen Becker machen Lust darauf, gemeinsam mit der chaotischen Natur ein jedes Jahr aufs Neue einzigartiges Pflanzenreich zu schaffen.
Jonas Reif, Christian Kreß: Blackbox Gardening – mit versamenden Pflanzen Gärten gestalten, Ulmer-Verlag, 188 Seiten, 221 Farbfotos, 29,90 Euro.
(Von Gisela Busch)