In Florida ist es 28 Grad warm, hat Richard Oppenheimer vorhin im Telefonat mit seiner Frau erfahren. Dort liegt sein Zuhause, „aber meine Heimat, das ist Bad Wildungen.“ Weil es die Heimat seiner Mutter und ihrer Familie war. Mutter Erika Mannheimer und Großmutter Lina überlebten als einzige die Shoah, den Holocaust.
Nach ihrer Befreiung kamen sie zurück. „Meine Großmutter wollte bleiben, aber meine Mutter sagte Neeeh!!!“, berichtet der Sohn und schüttelt heftig den Kopf, wie es seine Mutter als Anfang 20-Jährige getan haben muss. „Wir gehen in die USA!“.
Dort lernte Erika Mannheimer ihren Mann kennen, der 1940 aus Augsburg geflohen war. Mit Großmutter Lina unter einem Dach wurde in Amerika nur Deutsch gesprochen. „Ich bin damit aufgewachsen. In der Schule musste ich Englisch erst lernen“, erinnert sich Oppenheimer. Mit Kartoffelsalat, Heringssalat und Ofenkuchen sei er groß geworden: „Ich bin Deutscher, kein Amerikaner.“ Die Zerrissenheit der Verfolgten spricht aus seinen Erzählungen. Innerlich verhaftet der Kultur ihrer Heimat, die sie verfolgt und ihrer Liebsten beraubt hatte, hinterließen Eltern und Oma dem jungen Richard doch die Liebe zu diesen Wurzeln. Über das Grauen wurde zu Hause nicht gesprochen, erinnert er sich. Eine Reise nach Deutschland? Das kam nie in Frage.
1988 starb Erika Oppenheimer. „Mein Vater sagte: Nimm all die alten Dinge von Mama und wirf sie weg!“ Der Sohn gehorchte – bis zu dem Moment, als er in einem Schrank einen Schuhkarton entdeckte. Richard Oppenheimer stockt die Stimme für einen Augenblick. In dem Karton lag das Tagebuch seiner Mutter, in dem sie das Leid im Ghetto und im Lager beschreibt, den Todesmarsch, die Befreiung durch die Rote Armee und ihren eigenen, fünfmonatigen Rückweg zu Fuß nach Bad Wildungen 1945. „Damit das nicht vergessen wird“, ist er überzeugt: „Sie hat alles 1945 aufgeschrieben, sie hatte alles frisch im Gedächtnis.“
Der Sohn verwahrte das Tagebuch. Diesem folgend vollzog er auf einer Reise die Stationen des Todesmarsches nach, ging die Orte mit Hilfe eines polnischen Reiseführers ab. „Meine Mutter musste 20 Kilometer am Tag ohne Schuhe laufen, bei Eiseskälte“, erzählt er. Ein Kuhstall, in dem die zum Marsch Getriebenen schliefen, steht bis heute.
Dann drängte es Richard Oppenheimer nach Bad Wildungen. Zum zehnten Mal ist er hier an diesem Tag, an dem die Stolperschwelle verlegt wird. Seine Großeltern, Onkel, Tante und zwei Cousinen waren unter den letzten 34 Deportierten am 15. November 1939 auf dem Bahnhof.
Freundschaften ins Deutschland von heute hat er geknüpft, dem er vertraut. In dem er auf Einladung Älteren und Jüngeren die Geschichte und das Schicksal der Familie Mannheimer näher bringt.
Richard Oppenheimer übergibt mit Eva Floersheim und Daniel Kaufmann, stellvertretend für die Nachfahren, eine Tafel an den Bürgermeister mit den Namen der 34 und der Bitte, die Tafel am Bahnhofsgebäude nahe der Stolperschwelle anzubringen. Und Richard Oppenheimer hegt einen zweiten großen Wunsch, den er im persönlichen Gespräch offenbart. Er möchte bald von Florida nach Bad Wildungen ziehen – in seine Heimat.
„Das Wort Jude hörte ich erstmals im Schulunterricht“, sagt Daniel Kaufmann aus Marburg, geboren 1946. Seine Eltern praktizierten ihren jüdischen Glauben nicht. Daher war er sich seiner eigenen jüdischen Wurzeln nicht bewusst. Er sprach es an, doch viel wurde zu Hause nicht vom Holocaust erzählt.
Kaufmanns Vater war Wildunger, der Großvater unterhielt eine urologische Praxis in der Stadt und ging wegen der Verfolgung nach Frankfurt. Kaufmanns Vater gelang von dort die rettende Flucht in die Schweiz: „Gerade noch. Morgens nahm er den Zug, nachmittags stand die Gestapo vor der Tür.“ Die Mutter hatte ebenso Zuflucht in der Schweiz gefunden, wo sich die Eltern kennen lernten. Sie war die Tochter des sprachwissenschaftlichen Dekans der Uni Marburg Herman Jacobsohn. Er nahm sich nach seiner Amtsenthebung 1933 das Leben.
Anhaltendes Gedenken ist aus Daniel Kaufmanns Sicht unerlässlich für den Fortbestand der Demokratie. „Die Kenntnisse über die Geschichte gehen verloren“, fürchtet er, „wer heute geboren wird, ist 90 Jahre von der ‘Machtergreifung‘entfernt.“ Die Lage der Demokratie heute schätzt er ähnlich ein, wie zum Kapp-Putsch 1920. Damals versuchten rechtsextreme Verschwörer vergeblich, die junge Weimarer Republik zu beseitigen. Ob es der Berliner Republik heute gelingt, ein zweites 1933 zu verhindern? Daniel Kaufmann zögert: „Ich denke ja. Wenn wir erinnern.“ Die Pandemie habe gezeigt, wie schnell die Stimmung umschlage.
Die Erinnerung bleibe beständige Arbeit, sagt auch die Norwegerin und Wahl-Israelin Eva Floersheim. Sie denkt an ihre Schulzeit, „wo die Geschichte von Minderheiten keine Rolle spielte, der Holocaust kein Thema war.“ Das änderte sich für sie, als sie in die Familie Floersheim einheiratete und zum Judentum konvertierte. Ihr Schwiegervater wuchs in Fulda auf und hegte zeitlebens sehr schöne Erinnerungen an die Besuche bei seinen Wildunger Verwandten. Sie wurden 1939 deportiert und ermordet.
Schwiegervater Flörsheim emigrierte schon 1936 nach Israel. Eva Floersheim stieg tief in die Geschichte seiner Familie ein. 40 Jahre lebte sie in Israel, das sie liebt und vermisst. Nach der Trennung von ihrem Mann, dem sie freundschaftlich verbunden blieb, wohnt sie seit 15 Jahren wieder in Norwegen. Deutschland habe mit seinen Gesetzen und der Aufarbeitung der NS-Verbrechen viel erreicht, aber auch hier sei der Hass gegen alles Fremde wieder da. „Ja, ich mache mir Sorgen um Israel, um Deutschland und Europa“, sagt Eva Floersheim mit Blick auf Gewalt und Krieg. Desto wichtiger sei es, die Erinnerung lebendig zu halten. (Matthias Schuldt)