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Stolperschwelle erinnert an Deportation Wildunger jüdischer Familien

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Von: Matthias Schuldt

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Übergabe der Erinnerungstafel zur Wildunger Stolperschwelle
An der Erinnerungstafel mit den Namen, welche die Stolperschwelle ergänzen soll (von links): Regierungspräsident Mark Weinmeister, Bürgermeister Ralf Gutheil, Thomas Schattner von der Initiative Stolpersteine, Hannelore Behle vom Kreisausschuss mit den Nachfahren jüdischer Wildunger Familien Richard Oppenheimer, Eva Floersheim und Daniel Kaufmann. © Matthias Schuldt

Es ist die erste ihrer Art. Eine Stolperschwelle am Bahnhof erinnert an die Vertreibung der letzten Jüdinnen und Juden 1939 aus Bad Wildungen.

Bad Wildungen – Beklemmend bringen die Jugendlichen von Ense-Schule und Alter Landesschule die 83 Jahre auf null herunter. Geschichte ist plötzlich Gegenwart, als die Gruppe am Dienstagmittag im szenischen Spiel auf dem Wildunger Bahnsteig schweigend Schilder mit Fotos von Wildunger Jüdinnen und Juden empor hält. Einige der jungen Leute tragen alte Koffer, wie die 34 Menschen, die als letzte am 15. November 1939 mit dem Zug nach Kassel deportiert wurden.

Gedenken an die Deportation der letzten Wildunger Juden 1939 vom Bahnhof aus.
Schülerinnen und Schüler gestalteten das Gedenken lebendig und greifbar anhand von Namen und Fotos der Vertriebenen. © Matthias Schuldt

Eine Schülerin verliest die Namen: „Berthold Baruch...Gisela Flörsheim...Max Hammerschlag...“. Name für Name, Foto für Foto in den Händen der Jugendlichen, entschwinden diese Menschen am Ende des Bahnsteigs dem Gesichtsfeld der Gäste. „Judenfrei“ meldete sich die Stadt damals. Zwei der 34, Lina Mannheimer und Selma Hammerschlag, überlebten die Vernichtungslager. Die Jugendlichen kehren mit allen Namen und den Fotos zurück auf den Bahnsteig zum Beginn des Gedenkens an jenen Tag. Künstler Günter Demnig verlegt eine „Stolperschwelle“, die erste ihrer Art, zur Erinnerung an diese Deportation.

Jüdische Menschen brauchen Polizeischutz auf der Straße - nicht vor 80 Jahren, sondern heute

„Wir müssen wachsam bleiben“, forderte Regierungspräsident Mark Weinmeister: weil jüdische Menschen, die heute auf deutschen Straßen unterwegs seien, Polizeischutz benötigten, „ohne dass über diese Tatsache öffentlich diskutiert würde. Welche Diskussion gäbe es dagegen, wenn wir Polizei vor jeder Grundschule bräuchten, um unsere Kinder zu schützen?“

Toleranz, Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit „für alle, die hier leben, zu bewahren“, laute der Auftrag. Menschen würden ausgegrenzt und niedergemacht bis hin zum politischen Mord, gedachte Weinmeister auch seines Vorgängers im Amt, Walter Lübcke: „Nicht vor 80 Jahren geschieht das – heute.“ Es gehe längst nicht mehr um ein „Wehret den Anfängen. Die Anfänge sind schon da.“

Stolperschwelle lädt ein, sich mit den Stolpersteinen und den Schicksalen dahinter zu beschäftigen

Über deren Ursprünge im NS-Regime zu stolpern; das leiste die neue Schwelle auf dem Bahnsteig und lade zugleich dazu ein, die Stolpersteine in Bad Wildungen zu erforschen und sich mit der Geschichte der Wildungerinnen und Wildunger zu beschäftigen, an die sie erinnern, sagte Bürgermeister Ralf Gutheil.

Künstler Günter Demnig verlegt Stolperschwelle am Wildunger Bahnhof.
In den Bahnsteig ließ Künstler Günter Demnig die Stolperschwelle ein. © Matthias Schuldt

Hannelore Behle vom Kreisausschuss Waldeck-Frankenberg hob die Verdienste der Wildunger Stolperstein-Initiative um dieses wichtige Gedenken hervor: „Bad Wildungen ist die erste Kommune im Landkreis, die diese Steine verlegt hat.“

Nachfahren Wildunger jüdischer Familien nehmen am Gedenken teil

Unter anderem das „Demokratiemobil“ der Initiative „Geschlossen gegen Ausgrenzung, Offen für Vielfalt“ begleitete das Gedenken. In ihr engagieren sich nordhessische Unternehmen, Vereine und andere Organisationen, um Angriffen auf die Demokratie durch Öffentlichkeitsarbeit zu begegnen. Das Team interviewte Richard Oppenheimer, Eva Floersheim und Daniel Kaufmann. Sie nahmen für die Nachfahren der jüdischen Familien am Gedenken teil und würdigten das Engagement in Bad Wildungen..

Stolperschwelle am Wildunger Bahnhof
Stolperschwelle am Wildunger Bahnhof © Matthias Schuldt

„Was für ein Geschenk an die Stadt.“ So kommentierte Johannes Grötecke von der Initiative Stolpersteine diesen Vertrauensbeweis und dieses Zeichen der Versöhnung durch Angehörige der 34 Menschen, die im November 1939 deportiert wurden.

Nachfahre Richard Oppenheimer: „Bad Wildungen ist meine Heimat“

Was ihm dieser Tag bedeutet? Richard Oppenheimer treten die Tränen in die Augen. „Das hier ist meine Heimat. Hier liegen meine Wurzeln“, antwortet er eindringlich, mitten im geschäftigen Treiben und durcheinander Reden vieler Gäste und Mitwirkender. Sie wärmen sich, wenige Minuten vor Beginn der Gedenkveranstaltung, im Warteraum des Bahnhofs , denn auf dem Bahnsteig weht ein eisiger Wind.

In Florida ist es 28 Grad warm, hat Richard Oppenheimer vorhin im Telefonat mit seiner Frau erfahren. Dort liegt sein Zuhause, „aber meine Heimat, das ist Bad Wildungen.“ Weil es die Heimat seiner Mutter und ihrer Familie war. Mutter Erika Mannheimer und Großmutter Lina überlebten als einzige die Shoah, den Holocaust.

Zerrissenheit zwischen Heimatgefühlen und dem Schrecken des Holocaust

Nach ihrer Befreiung kamen sie zurück. „Meine Großmutter wollte bleiben, aber meine Mutter sagte Neeeh!!!“, berichtet der Sohn und schüttelt heftig den Kopf, wie es seine Mutter als Anfang 20-Jährige getan haben muss. „Wir gehen in die USA!“.

Dort lernte Erika Mannheimer ihren Mann kennen, der 1940 aus Augsburg geflohen war. Mit Großmutter Lina unter einem Dach wurde in Amerika nur Deutsch gesprochen. „Ich bin damit aufgewachsen. In der Schule musste ich Englisch erst lernen“, erinnert sich Oppenheimer. Mit Kartoffelsalat, Heringssalat und Ofenkuchen sei er groß geworden: „Ich bin Deutscher, kein Amerikaner.“ Die Zerrissenheit der Verfolgten spricht aus seinen Erzählungen. Innerlich verhaftet der Kultur ihrer Heimat, die sie verfolgt und ihrer Liebsten beraubt hatte, hinterließen Eltern und Oma dem jungen Richard doch die Liebe zu diesen Wurzeln. Über das Grauen wurde zu Hause nicht gesprochen, erinnert er sich. Eine Reise nach Deutschland? Das kam nie in Frage.

Das Tagebuch im Schuhkarton

1988 starb Erika Oppenheimer. „Mein Vater sagte: Nimm all die alten Dinge von Mama und wirf sie weg!“ Der Sohn gehorchte – bis zu dem Moment, als er in einem Schrank einen Schuhkarton entdeckte. Richard Oppenheimer stockt die Stimme für einen Augenblick. In dem Karton lag das Tagebuch seiner Mutter, in dem sie das Leid im Ghetto und im Lager beschreibt, den Todesmarsch, die Befreiung durch die Rote Armee und ihren eigenen, fünfmonatigen Rückweg zu Fuß nach Bad Wildungen 1945. „Damit das nicht vergessen wird“, ist er überzeugt: „Sie hat alles 1945 aufgeschrieben, sie hatte alles frisch im Gedächtnis.“

Der Sohn verwahrte das Tagebuch. Diesem folgend vollzog er auf einer Reise die Stationen des Todesmarsches nach, ging die Orte mit Hilfe eines polnischen Reiseführers ab. „Meine Mutter musste 20 Kilometer am Tag ohne Schuhe laufen, bei Eiseskälte“, erzählt er. Ein Kuhstall, in dem die zum Marsch Getriebenen schliefen, steht bis heute.

Freundschaften geknüpft ins Bad Wildungen von heute

Dann drängte es Richard Oppenheimer nach Bad Wildungen. Zum zehnten Mal ist er hier an diesem Tag, an dem die Stolperschwelle verlegt wird. Seine Großeltern, Onkel, Tante und zwei Cousinen waren unter den letzten 34 Deportierten am 15. November 1939 auf dem Bahnhof.

Freundschaften ins Deutschland von heute hat er geknüpft, dem er vertraut. In dem er auf Einladung Älteren und Jüngeren die Geschichte und das Schicksal der Familie Mannheimer näher bringt.

Das Wort „Jude“ zum ersten Mal im Schulunterricht gehört

Richard Oppenheimer übergibt mit Eva Floersheim und Daniel Kaufmann, stellvertretend für die Nachfahren, eine Tafel an den Bürgermeister mit den Namen der 34 und der Bitte, die Tafel am Bahnhofsgebäude nahe der Stolperschwelle anzubringen. Und Richard Oppenheimer hegt einen zweiten großen Wunsch, den er im persönlichen Gespräch offenbart. Er möchte bald von Florida nach Bad Wildungen ziehen – in seine Heimat.

„Das Wort Jude hörte ich erstmals im Schulunterricht“, sagt Daniel Kaufmann aus Marburg, geboren 1946. Seine Eltern praktizierten ihren jüdischen Glauben nicht. Daher war er sich seiner eigenen jüdischen Wurzeln nicht bewusst. Er sprach es an, doch viel wurde zu Hause nicht vom Holocaust erzählt.

Jüdischer Urologe flieht aus Bad Wildungen

Kaufmanns Vater war Wildunger, der Großvater unterhielt eine urologische Praxis in der Stadt und ging wegen der Verfolgung nach Frankfurt. Kaufmanns Vater gelang von dort die rettende Flucht in die Schweiz: „Gerade noch. Morgens nahm er den Zug, nachmittags stand die Gestapo vor der Tür.“ Die Mutter hatte ebenso Zuflucht in der Schweiz gefunden, wo sich die Eltern kennen lernten. Sie war die Tochter des sprachwissenschaftlichen Dekans der Uni Marburg Herman Jacobsohn. Er nahm sich nach seiner Amtsenthebung 1933 das Leben.

Anhaltendes Gedenken ist aus Daniel Kaufmanns Sicht unerlässlich für den Fortbestand der Demokratie. „Die Kenntnisse über die Geschichte gehen verloren“, fürchtet er, „wer heute geboren wird, ist 90 Jahre von der ‘Machtergreifung‘entfernt.“ Die Lage der Demokratie heute schätzt er ähnlich ein, wie zum Kapp-Putsch 1920. Damals versuchten rechtsextreme Verschwörer vergeblich, die junge Weimarer Republik zu beseitigen. Ob es der Berliner Republik heute gelingt, ein zweites 1933 zu verhindern? Daniel Kaufmann zögert: „Ich denke ja. Wenn wir erinnern.“ Die Pandemie habe gezeigt, wie schnell die Stimmung umschlage.

Erinnerung an den Holocaust bleibt beständige Arbeit

Die Erinnerung bleibe beständige Arbeit, sagt auch die Norwegerin und Wahl-Israelin Eva Floersheim. Sie denkt an ihre Schulzeit, „wo die Geschichte von Minderheiten keine Rolle spielte, der Holocaust kein Thema war.“ Das änderte sich für sie, als sie in die Familie Floersheim einheiratete und zum Judentum konvertierte. Ihr Schwiegervater wuchs in Fulda auf und hegte zeitlebens sehr schöne Erinnerungen an die Besuche bei seinen Wildunger Verwandten. Sie wurden 1939 deportiert und ermordet.

Schwiegervater Flörsheim emigrierte schon 1936 nach Israel. Eva Floersheim stieg tief in die Geschichte seiner Familie ein. 40 Jahre lebte sie in Israel, das sie liebt und vermisst. Nach der Trennung von ihrem Mann, dem sie freundschaftlich verbunden blieb, wohnt sie seit 15 Jahren wieder in Norwegen. Deutschland habe mit seinen Gesetzen und der Aufarbeitung der NS-Verbrechen viel erreicht, aber auch hier sei der Hass gegen alles Fremde wieder da. „Ja, ich mache mir Sorgen um Israel, um Deutschland und Europa“, sagt Eva Floersheim mit Blick auf Gewalt und Krieg. Desto wichtiger sei es, die Erinnerung lebendig zu halten. (Matthias Schuldt)

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