Zukunftsprojekt der Vergangenheit: Bahnstrecke Wildungen-Marburg

Vor 100 Jahren scheiterten endgültig Pläne, eine zweite Bahnstrecke von Bad Wildungen aus zu bauen. Sie sollte direkt Richtung Süden führen.
Bad Wildungen – Visionen von einer Reaktivierung der Bahnstrecke zwischen Bad Wildungen und dem Edersee werden seit dem vergangenen Jahr diskutiert. Die Eisenbahn beflügelt also auch heute noch die Phantasie von Menschen. Allerdings nimmt sich die aktuelle Anregung sehr bescheiden aus im Vergleich zudem, was vor 100 Jahren weit über die Grenzen der Stadt hinaus diskutiert wurde: eine zweite Bahnverbindung für die Kurstadt neben der Strecke Richtung Korbach.
Die Route sollte über Wesetal und Frankenau nach Frankenberg und weiter Richtung Marburg führen. Die Strecke wurde dabei gedanklich tatsächlich mitten durch die Kurstadt gelegt. Die Pläne schlossen einen rund einen Kilometer langen Tunnel in den Zimmergründen und eines Viadukt ein, der sich in 34 Metern Höhe über das Sondertal spannen sollte. Reinhardshausen wäre damit ebenfalls direkt an die Bahnlinie angeschlossen gewesen. Auf dem heutigen Schützenplatz wäre ein zweiter Bahnhof „Bad Wildungen-West“ entstanden. Sechs Millionen Reichsmark waren für das Projekt angesetzt, für das die Universitätsstadt Marburg damals beim Reichsverkehrsministerium die Werbetrommel rührte. Eine etwas weniger aufwendige Variante wurde ebenfalls diskutiert: das Aussparen Bad Wildungens und ein Verlegen der Gleise durchs Wesetal bis nach Bergheim-Giflitz, wo sie an die bestehende Verbindung Bad Wildungen-Korbach aangeschlossen worden wären.
Das Reichsverkehrsministerium stand dem Ganzen wegen der hohen Kosten aber sehr skeptisch gegenüber. Die Hyperinflation in der Weimarer Republik 1923 mit der Einführung der Rentenmark als neuer Währung führte zu einer endgültigen Beerdigung des Vorhabens, berichtet Autor Rudolf Lochte in einem historischen Rückblick in der Waldeckischen Landeszeitung aus dem Jahr 1978.
Er verweist auf einen weiteren, hochinteressanten Aspekt. Die Pläne waren noch älter und stammten ursprünglich aus dem Jahr 1912, ausgearbeitet von der „Continentalen Eisenbahnbau- und Betriebsgesellschaft Berlin“. Sie versprach sich seinerzeit einen anfänglichen Reinüberschuss von 23 000 Mark jährlich. Im Lauf der Zeit sollten daraus sogar 70 000 Mark per anno werden. Zum Vergleich: ein Arbeitnehmer im Kaiserreich verdiente damals ungefähr 700 Reichsmark pro Jahr.
Die Geschäftshoffnungen der Eisenbahngesellschaft 1912 dürften auf dem Bau der Edertaler Sperrmauer geruht haben und den positiven Folgen für die Wirtschaftsentwicklung des Waldecker Landes. Denn vor dem zukunftsweisenden Talsperrenvorhaben drohte das Fürstentum Waldeck von der Moderne abgekoppelt zu werden. Die Waldecker Politik hatte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts versucht, den preußischen Staat, dem man sich angeschlossen hatte, zum Bau einer Bahnstrecke im Waldecker Land zu bewegen. Das gelang aber erst, als Preußen vom Fürstentum ein Enteignungsgesetz benötigte, um an das Land für den Bau der Talsperre zu kommen.
Edersee gegen Bahnbau – der Handel galt. Bad Wildungen hatte sich damals als Ausgangspunkt gegen Herzhausen durchsetzen können. Die Vertreter im heutigen Vöhler Ortsteil wollten mit Hilfe der Bahn Eisenerzvorkommen rentabel ausbeuten und verlangten einen Streckenverlauf über ihr Dorf. Doch die Lobby des „Weltbades“ setzte sich im internen Waldecker Ringen durch. Die Route nach Korbach über Waldeck wurde verwirklicht. Die Louis-Peter-Werke (heute Continental) entstanden in der Folge in Korbach und die Firma Mauser in Waldeck.
Die Continentale Eisenbahngesellschaft vermutete wohl ähnliches Potenzial in einer Strecke gen Süden. Der Erste Weltkrieg durchkreuzte die Pläne, die bis zum Beginn der 1920er Jahre in den Schubläden liegen blieben. (Matthias Schuldt)