94-jährige Elli Bünzel aus Frankenberg erlebte Volksaufstand in der DDR

Die heute 94 Jahre alte Elli Bünzel hat den Volksaufstand am 17. Juni 1953 miterlebt. Im Gespräch mit der HNA erinnerte sich die Senioren an die Ereignisse vor 69 Jahren.
Frankenberg – 17. Juni 1953: Während in der Bundesrepublik das Wirtschaftswunder blüht, formieren sich in der DDR Massenproteste gegen die Militärregierung, betriebliche Enteignungen und eine Kollektivierung der Landwirtschaft. Um einen drohenden Versorgungsnotstand abzuwenden, beschließt das SED-Regime am 28. Mai 1953, die Arbeitsnormen um 10,3 Prozent zu erhöhen.
Für die Bevölkerung bedeutet das mehr Arbeit bei gleichem Lohn. Es kommt zum „Volksaufstand“. Am 17. Juni 1953 versammeln sich über eine Million Menschen in über 700 Städten der DDR. In Berlin und anderen Orten kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen. Der Aufstand wird von sowjetischen Panzern brutal niedergeschlagen. 120 Menschen sterben, 18 Demonstranten werden standrechtlich erschossen.
Elli Bünzel, die heute mit 94 Jahren im DRK-Seniorenheim an der Bottendorfer Straße in Frankenberg lebt, hat den Volksaufstand als junge Frau miterlebt. Elli Bünzel, geborene Voigt, stammt aus Osterwieck im Harz. Sie hatte den Beruf der Bankkauffrau erlernt und war befreundet mit einem jungen Architekten aus Halle. Als die Lebensumstände in der DDR im Jahr 1953 immer schwieriger wurden, sagte der Architekt: „Ich geh’ weg. Kommst du mit?“
„Meine Mutter durfte nichts davon wissen“, berichtet die heute 94-Jährige. Der Mutter habe sie erzählt, dass sie „in den Urlaub“ fahre. Später habe sie der Mutter eine Postkarte geschickt, die nur durch die Handschrift ihren Absender verriet. Anderenfalls wäre die Mutter staatlichen Repressalien ausgesetzt gewesen.
In der S-Bahn einfach sitzen geblieben
Kurz vor dem 17. Juni war Elli Voigt mit ihrem Freund sowie zwei weiteren jungen Paaren unterwegs nach Zehdenick bei Berlin. „Jedes Paar hatte ein Faltboot und ein Zelt mit dabei“, berichtet Elli Bünzel. Der einfachste Weg in den Westen war damals der mit der S-Bahn von Ost- nach Westberlin. „Wir sind im Osten in die S-Bahn eingestiegen. Und als die Durchsage kam ‘Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor‘, sind wir einfach sitzen geblieben“, erzählt Elli Bünzel.
Die sechs jungen Leute stiegen erst im westlichen Stadtteil Kreuzberg aus und fanden eine erste Bleibe in der Katzbachstraße. Dort wohnte eine Tante eines der drei jungen Männer. „Da wurden im Wohnzimmer einige Möbel gerückt und wir konnten für mehrere Tage dort übernachten“, erzählt Elli Bünzel.
Am 16. Juni meldeten sich die jungen Leute in der Notaufnahmestelle in West-Berlin als Flüchtlinge. „Uns wurden die Pässe abgenommen und wir bekamen einen Laufzettel“, berichtet die 94-Jährige. Unter anderem mussten der ärztliche Dienst, eine Schirmbildstelle und eine Sichtungsstelle durchlaufen werden – den „Laufzettel“ hat Bünzel bis heute aufbewahrt.
Von einem Polizisten aufgehalten
Durch Mund-zu-Mund-Propaganda erfuhren die sechs jungen Menschen von den Demonstrationen im Osten der Stadt. „Da war ein Gegrummel und Gerede. Unsere jungen Männer wollten natürlich dort hin.“ Die Gruppe kam aber nur bis zum Alexanderplatz und wurde dort von einem älteren Polizisten mit den Worten aufgehalten: „Wo wollt ihr hin? – Wenn ihr nicht gleich weg seid, verhafte ich euch!“ In diesem Moment sei ihnen bewusst geworden, dass sie keine Pässe hatten und quasi als „Staatenlose“ unterwegs waren. „Da hat dann die Vernunft gesiegt“, berichtet Elli Bünzel. Man sei der Warnung des Polizisten gefolgt und habe den Rückweg angetreten. „Wir konnten die russischen Panzer in der Stalin-Allee hören. Es fielen auch Schüsse.“
So ging es zurück nach Kreuzberg. Weil es im Wohnzimmer der Tante zu eng wurde, habe man mehrere Wochen auf einer Badewiese gezeltet, ehe die sechs jungen Menschen schließlich mit einer zweimotorigen Propellermaschine „ausgeflogen“ wurden. Sie kamen ins Auffanglager Friedland und von dort nach Münzenberg in der Wetterau. Dort trennten sich die Wege von Elli Bünzel und dem Architekten aus Halle. Dieser habe verlangt, dass sie in einer Nudelfabrik arbeite. „Das wollte ich aber nicht.“
In ihrem erlernten Beruf als Bankkauffrau habe sie nicht arbeiten können, weil sie vom westlichen Bankwesen „keine Ahnung“ gehabt habe, erzählt die 94-Jährige. Als per Zeitungsinserat „redegewandte Frauen“ gesucht wurden, habe sie sich im Hinterzimmer einer Frankfurter Gaststätte für den Haustürverkauf von Möbelpolitur anwerben lassen.
Über Bad Homburg nach Willersdorf
Eine feste Stelle fand sie schließlich bei einem Verlag in Bad Homburg, der Wirtschafts- und Steuerhefte für kleinere Betriebe und Handwerker herausgab. „Ich habe im Büro gearbeitet und mich auf eigene Füße gestellt“, erzählt Elli Bünzel. Gewohnt habe sie im damals schon feudalen Bad Homburg als „möbliertes Fräulein“. Dort lernte sie auch ihren späteren Mann Joachim Bünzel kennen, der in der Baubranche tätig war. Über die Baubranche erfuhr Joachim Bünzel von der Baufirma Balzer in Frankenberg, die Mitarbeiter suchte. Im Frühjahr 1958 kam die junge Familie – Tochter Karin war 1956 geboren worden – nach Willersdorf und wohnte zunächst im Haus der früheren Hebamme Gleim. 1960 und 1965 wurden dann die Söhne Jörg und Stefan geboren. In der Grindstraße baute Joachim Bünzel ein eigenes Haus.
Joachim Bünzel war Maurermeister und Bauingenieur. Nach seiner Tätigkeit für das Bauunternehmen Balzer war er von 1982 bis 1991 im Bauamt der Stadt Frankenberg beschäftigt, ehe er in den Ruhestand ging und schließlich im Jahr 2016 mit 87 Jahren starb.
Elli Bünzel lebte über 60 Jahre glücklich und zufrieden in Willersdorf, ehe sie aus Altersgründen das Haus verkaufte und in ein Seniorenheim umzog: Zunächst nach Burgwald und am 1. Dezember 2021 ins DRK-Seniorenheim an der Bottendorfer Straße in Frankenberg.
Die erste Frau mit Führerschein
Elli Bünzel ist bis heute eine selbstbewusste Frau mit klaren Vorstellungen geblieben. „In Willersdorf war sie die erste Frau mit Führerschein und die erste im Kirchenvorstand“, berichtet ihr Sohn Stefan. Über viele Jahre war sie auch Vorsitzende der örtlichen Landfrauen.
Von Thomas Hoffmeister
