Nach dem Erdbeben in der Türkei: Michael Stehl berichtet von seinem Hilfseinsatz

Von seinem Hilfseinsatz im Erdbebengebiet in der Türkei berichtet einer der unzähligen Retter: Michael Stehl aus Gemünden.
Gemünden – Als Michael Stehl seine Wohnungstür öffnete, staunte er: Kleine Päckchen hingen daran. Geschenke, überwiegend von türkischen Mitbürgern überbracht. Sie wollten dem 34-jährigen Gemündener danken – für seinen zuvor unermüdlichen, gefährlichen Rettungseinsatz in der türkisch-syrischen Grenzregion nach dem schweren Erdbeben. Es hatte dort in der Nacht auf Montag, 6. Februar, gewütet.
„Diese Gesten hier in Deutschland von Menschen, deren Verwandte und Bekannte in dem betroffenen Gebiet von der Naturkatastrophe heimgesucht wurden, haben mich sehr berührt“, beschreibt Michael Stehl seine Gefühle für die Dankbarkeit ihm gegenüber.
Immerhin hat er bei dem einwöchigen Einsatz in der türkischen Stadt Kirikhan in der Provinz Hatay nahe der Grenze zu Syrien sein Leben riskiert. Nicht nur einmal. Gefahr war ein ständiger Begleiter: „Das blendet man aber für eine gewisse Zeit aus, denn man muss voll konzentriert funktionieren, um helfen zu können.“ Der ehrenamtliche Gemündener Feuerwehrmann: „Ich war froh, dass ich in der Katastrophenregion anpacken konnte – besser, als nur daheim im sicheren Wohnzimmer gemütlich vor dem Fernseher zu sitzen und mir die furchtbaren Bilder aus der Türkei anzusehen.“
Stehl war mit der gemeinnützigen Hilfsorganisation ISAR Germany ins Erdbebengebiet geflogen. Der Gemündener gehört seit sechs Jahren dazu. 2021 war er erstmals nach einem Erdbeben im Einsatz: in Haiti. „Es war schlimm damals. Aber nicht vergleichbar mit dem Drama in der Türkei und Syrien“, unterstreicht Michael Stehl.
Den 34-Jährigen erreichte die Mitteilung für den Einsatz in der Türkei am 6. Februar am frühen Morgen. Das Handy gab Alarm. „4.46 Uhr“, erinnert sich Stehl genau. Dann musste alles sehr schnell gehen. Für die freiwilligen Helfer von ISAR Germany hieß es, alles stehen und liegen zu lassen. Auch, wenn man zum Beispiel ein Haus im kompletten Umbauzustand hat – wie Michael Stehl.
Schließlich mussten noch die Arbeitgeber informiert und um grünes Licht für eine Freigabe gebeten werden. Bei dem hauptberuflichen Notfallsanitäter aus Gemünden waren es sogar zwei: der Kreisverband Frankenberg des Deutschen Roten Kreuzes und der DRK-Rettungsdienst Mittelhessen. Stehl: „Ich bin dankbar, dass ich sofort die Erlaubnis für meinen Einsatz in der Türkei bekommen habe. Ich danke auch meinen Kollegen, die meine Dienste übernommen hatten.“
„Das eigene Empfinden zählte in dieser Zeit nicht“
Am Dienstag, 7. Februar, hob der Flieger um 4 Uhr morgens vom Flughafen Köln/Bonn ab. 42 Frauen und Männer bereiteten sich an Bord mental auf die Suche nach Überlebenden vor. Mit im Gepäck waren 16 Tonnen Material – Schlafzelte, Küche, Lebensmittel und Stromgeneratoren mussten zur eigenen Versorgung mitgenommen werden. Die deutsche ISAR-Gruppe war als erstes internationales Team in der dortigen Provinz angekommen. 15 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt.
Kaum im Einsatzgebiet, wurde gar nicht mehr lange gewartet. Die Frauen und Männer suchten sofort fieberhaft nach Überlebenden. Mit Trümmerkameras, Bio-Radaren und sieben Spürhunden kämpften sie sich durch bergeweise Schutt. Inmitten von Trümmern herrschten Not und Leid. Die Lage: gefährlich und kompliziert. Nicht zu unterschätzen dabei: das große Vertrauen unter den zumeist ehrenamtlichen Rettern. Jeder konnte sich auf den anderen verlassen.

Der unerschrockene Einsatz wurde noch am selben Tag belohnt. Bereits um 17.55 Uhr Ortszeit wurde der erste lebendig Verschüttete aus den Trümmern befreit. „Das motiviert natürlich zusätzlich“, bekräftigt Stehl.
Eile war grundsätzlich geboten, auch wegen der heftigen Minustemperaturen nachts. Die Überlebenschancen von Verschütteten waren in einem Zeitfenster von 72 Stunden am höchsten. Aber auch Behutsamkeit war gefragt. Denn jede falsche Bewegung in den Trümmern war für die lebendig Verschütteten wie auch für die Retter lebensgefährlich.
Es wurde in Zwölf-Stunden-Schichten unermüdlich gearbeitet. Dabei gab es auch heikle Situationen mit Menschen, die nach ihren verschütteten Angehörigen suchten. Entsprechend intensiv seien die Hilfsanfragen an die Retter gewesen. Bis hin zu unverhohlener Aggressivität. Stehl zeigt dafür ein gewisses Verständnis: „Da lagen viele Nerven blank.“ Angst vor Übergriffen habe er aber nicht gehabt: „Wir hatten durch Sicherheitsmitarbeiter guten Personenschutz.“
In der Folge gab es drei weitere Lebendrettungen durch ISAR. Letztere allerdings mit tragischem Ausgang. Eine Frau war sogar nach mehr als 100 Stunden lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses gerettet worden. In der darauffolgenden Nacht aber verstarb sie.
Auch wenn die Helfer versuchten, eine emotionale Verbundenheit gar nicht erst entstehen zu lassen: „Das war für uns alle dann doch ein großer Schock. Da flossen sehr viele Tränen.“
Grundsätzlich aber blendeten die Helfer Gefühle weitestgehend aus: „Der Auftrag, Menschen zu retten, stand absolut im Fokus. Das eigene Empfinden zählte in dieser Zeit nicht. Man durfte sich in nichts hineinsteigern, musste funktionieren. Außenstehende können das vielleicht nicht nachvollziehen. Aber für uns war dies auch ein Schutzmechanismus“, beschreibt Stehl das seelische Spannungsfeld der 42 Frauen und Männer.
Sogar in der Nacht war an eine persönliche Aufarbeitung der Geschehnisse schwer bis gar nicht zu denken. Bei manchen kreisten die Gedanken um ganz andere Dinge – beispielsweise, wie in den Zelten die Kälte auszuhalten ist. Denn es herrschten im Katastrophengebiet extreme Temperaturunterschiede. Waren es tagsüber noch plus zwölf Grad, herrschten nachts bittere minus elf Grad. Stehl: „An ausreichend Schlaf war daher nicht zu denken. Man hat bestenfalls geruht.“
Den Aktiven bietet die Hilfsorganisation ISAR Germany psychologische Betreuung an. Ob sie angenommen wird, „kann jeder selbst entscheiden. Jeder hat seine eigene Art der Verarbeitung. Ich auch“. Eine Woche dauerte für Michael Stehl der Einsatz im Erdbebengebiet.
Nach der Rückkehr in der Heimat ließ auch bei ihm die Anspannung nach, konnte er sich im Laufe der Zeit mit dem furchtbaren Ereignis und den Erlebnissen vor Ort für eine persönliche Aufarbeitung befassen: „Die Bilder gingen mir erst zuhause so richtig durch den Kopf.“
Warum ließ er sich auf einen solch‘ waghalsigen, mitunter lebensgefährlichen Einsatz wie in der Türkei ein? Stehl: „Ich möchte Menschen helfen, denen es nicht so gut geht wie uns in Deutschland.“ Und wenn die ISAR-App auf dem Handy gleich wieder Alarm schlägt? „Dann bin ich sofort wieder dabei!“
170 Aktive können eingesetzt werden
ISAR Germany wurde im Jahr 2003 in Duisburg gegründet. Die Hilfsorganisation kommt weltweit zum Einsatz. Der Name ISAR steht für „International Search-and-Rescue“ und ist ein Zusammenschluss aus Spezialisten verschiedener Hilfsorganisationen und dem Bundesverband Rettungshunde.
Seit dem Jahr 2007 arbeitet ISAR Germany unter dem Dach der Vereinten Nationen. Damals wurde die Hilfsorganisation als weltweit erstes Team von der UN-Organisation INSARAG als so genanntes „Medium-Team“ geprüft und zertifiziert.
Rund 170 aktive Helfer können weltweit eingesetzt werden. Die meisten von ihnen arbeiten ehrenamtlich, ein kleiner Stab von sechs festen Mitarbeitern kümmert sich um Organisation, Mitgliederbetreuung, Spenden.
Für ihre Finanzierung ist die Hilfsorganisation auf Spenden angewiesen. Das Spendenkonto lautet: I.S.A.R. Germany Stiftung gGmbH, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE25 3702 0500 0001 1825 00 isar-germany.de