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Generationenfragen: Hinhören, was in Lebenskrisen stärkt

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Von: Matthias Schuldt

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Mutter mit erwachsener Tochter
Im Generationengespräch Resilienz auf die Spur kommen: dazu lädt das Buch ein. Symbolbild: Franz Metelec/panthermedia 1253157 © Symbolbild: Franz Metelec/panthermedia 1253157

Der Edertaler Matthias Epperlein-Trümner hat ein Buch zum Thema Resilienz veröffentlicht: „Fragen, die noch gestellt werden wollen“.

.Edertal – Erderhitzung, zwei Jahre Pandemie und der Ukrainekrieg haben einen Begriff aus der Psychologie in den allgemeinen Sprachgebrauch katapultiert: Resilienz. In der Materialkunde beschreibt Resilienz einen Stoff, der elastisch auf äußere Einflüsse reagiert; wie eine Schaumstoffmatratze, die in ihre Ausgangsform zurückkehrt, wenn man das Bett verlässt.

„Sich in stürmischen Zeiten wie ein Baum zu biegen, aber nicht zu brechen, sondern sich wieder aufzurichten, wenn der Wind abflaut.“ So wird die Fähigkeit von Menschen zur Resilienz beschrieben in dem neuen Buch, das der Königshagener Sozialpädagoge Matthias Epperlein-Trümner vorgelegt hat. „Fragen, die noch gestellt werden wollen“ nähert sich dem Thema Resilienz von einer anderen Seite, nicht allein von der Perspektive des Einzelnen her.

Interviews mit Eltern und Großeltern

Zum Abschluss seiner langjährigen Arbeit als Dozent an der Hephata-Akademie für soziale Berufe lud Epperlein-Trümner Studentinnen und Studenten ein, Interviews zu führen über „Resilienzgeschichten, die das Leben schreibt“, wie es im Untertitel heißt. Das Buch dokumentiert die Ergebnisse.

Die angehenden Erzieherinnen und Erzieher sprachen mit Personen, die ihnen nahe stehen, zumeist Eltern oder Großeltern. Sie befragten die Angehörigen zu belastenden Themen, über die in der Familie zuvor in der Regel kaum oder nicht geredet worden war: Gespräche über Lebenskrisen und wie die Interviewten sie bewältigten.

Offenheit von beiden Seiten für das Projekt gefragt

„Es ging ans Eingemachte. Alle Krisen gab es schon einmal in irgendeiner Form“, schildert der Herausgeber. Sein Ansatz: „Zuhören und im Besonderen hinhören, um aus den Erfahrungen vorhergehender Generationen Erkenntnis zu gewinnen für die eigene Resilienz in Krisen.“

Von beiden Seiten verlange das Offenheit: bei den Kindern und Enkeln die Offenheit, die Mutter oder den Vater, die Oma oder den Opa frei erzählen zu lassen; bei den Interviewten das Zutrauen in die Jüngeren, sagt Epperlein-Trümner: „Kein ‘Mach´ es so wie ich‘, sondern ein ‘Höre hin und übersetze es in deine Zeit‘ als Hilfe, Krisen zu bewältigen.“ Das Buch zeigt so Wege auf, die Fähigkeit zur Resilienz über Generationen hinweg zu stärken.

Aha-Effekte und überraschende Strategien

Aus diesem Anspruch entwickelten sich kürzere und längere Gespräche, die beim Leser Aha-Effekte auslösen. Sie erlauben ein erhellendes Wiedererkennen, mit den eigenen Gedanken und Problemen nicht allein zu sein – einerseits. Andererseits konfrontiert einen die Lektüre mit aus heutiger Sicht eher überraschenden Strategien, Schicksalsschläge zu verwinden.

Ein Beispiel dafür gibt das hochbetagte Ehepaar, das den Krebstod des Sohnes nicht in Gesprächen miteinander bewältigte. Die zwei machten die Trauer mit sich allein im Inneren aus und bewahrten sich und die Familie vielleicht gerade auf diese Weise davor, an dem Verlust zu zerbrechen.

Spiegelbild der heutigen, vielfältigen Gesellschaft in Deutschland

Ohne es darauf angelegt zu haben, gelingt Matthias Epperlein-Trümner und den inzwischen abgeschlossenen Erzieherinnen und Erziehern mit den Interviews noch etwas Faszinierendes: die Vielfalt der Biografien der Fragenden und ihrer Bezugspersonen skizziert auch ein Bild von der kulturell-vielseitigen Gesellschaft in Deutschland heute mit ihrem vielgestaltigen Erfahrungsschatz.

Die alleinerziehende Mutter, die Stärke bezieht aus der positiven Entwicklung ihrer Kinder, findet sich ebenso, wie der Sohn mit türkischstämmigen Wurzeln, der zum ersten Mal mit seiner Mutter über die emotional belastende Trennung redet, als sie wegen der Arbeit dem Vater nach Deutschland folgte, während der kleine Junge bei Verwandten in der Türkei blieb, weil die Eltern doch zurückkehren wollten.

Der Einsatz für die eigene Familie

Die Vater-Mutter-Kind-Historie nach klassischem deutschen Verständnis spiegelt sich wider. Etwa in dem Mann, den das Ultimatum seiner Frau wegen seines Alkoholkonsums aufrüttelte. Er widmete sich seiner Familie, wechselte wegen besserer Bezahlung von Job zu Job, um die Existenz der Familie zu sichern. Im Umkehrschluss erzählt eine Frau von ihrem Leben, in dem sie sich fast immer den Wünschen ihres Mannes und dessen Eltern fügte bis hin zu der Zeit, in der sie die Pflege des Schwiegervaters im Alter übernahm, der das für selbstverständlich erachtete.

Eine Mutter erzählt ihrem Sohn, wie schwer es ihr fiel, wegen des Berufes des Vaters aufs Land umzuziehen. Ein Flüchtling, der als Jugendlicher ohne Familie vor einem Krieg nach Deutschland floh, schildert Erfahrungen von Rassismus wie Hilfsbereitschaft.

Blickwinkel auf den Krieg

Der 93 Jahre alte Schwiegervater berichtet von seiner Zeit als 15-jähriger Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg: „Ich war körperlich gesund und hatte Spaß daran, diese Tätigkeit auszuführen.“ Verführung, Verdrängung, Überzeugung? Die Schwiegertochter lässt die Frage offen. Die Familie habe ihm Geborgenheit gegeben, Krieg und Nachkriegszeit zu bestehen, sagt der alte Mann.

Dem steht die Geschichte einer Albanerin zur Seite. Als Siebenjährige verlor sie 1997 bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen ihre Kindheit, als sie auf ihre kleine Schwester aufpassen und Stunden warten musste, ob die Mutter auf der Suche nach Essen heil aus den umkämpften Straßen zurückkehren würde. (Matthias Schuldt)

Buchtipp: Matthias Epperlein-Trümner: Fragen, die noch gestellt werden wollen, Norderstedt 2022, ISBN: 978-3-7562-6116-1

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