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Holocaust-Überlebender Leon Weintraub (97) spricht in Korbach und Vöhl

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Ein Besuch, der beeindruckte: Dr. Leon Weintraub (Mitte) war zu Gast bei Schülern in Korbach und in der Synagoge Vöhl. Zu sehen sind (von links) ALS-Direktor Alexander Flake, Geschichtslehrer Johannes Grötecke, Marion Lilienthal von der ALS, Evamaria Weintraub mit Leon Weintraub, Christiane Becker-Golinski und Andreas Schön vom Schulleitungsteam der Beruflichen Schulen sowie Violetta Bat vom Netzwerk für Toleranz und Politik-Lehrer Matthias van der Minde.
Ein Besuch, der beeindruckte: Dr. Leon Weintraub (Mitte) war zu Gast bei Schülern in Korbach und in der Synagoge Vöhl. Zu sehen sind (von links) ALS-Direktor Alexander Flake, Geschichtslehrer Johannes Grötecke, Marion Lilienthal von der ALS, Evamaria Weintraub mit Leon Weintraub, Christiane Becker-Golinski und Andreas Schön vom Schulleitungsteam der Beruflichen Schulen sowie Violetta Bat vom Netzwerk für Toleranz und Politik-Lehrer Matthias van der Minde. © Barbara Liese

Der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub setzt sich als Zeitzeuge mit Vorträgen gegen das Vergessen ein und erzählt aus seinem Leben. Der 97-Jährige war zu Gast in den Beruflichen Schulen in Korbach und in der Synagoge Vöhl.

Leon Weintraub will vor allem junge Menschen erreichen. Sein Besuch im Waldecker Land gilt daher zunächst den Schülerinnen und Schülern der 12. Klassen des Beruflichen Gymnasiums, der Fachoberschule und der Alten Landesschule in Korbach.

Rund 180 Schüler erwarten ihn an den Beruflichen Schulen. Als der 97-Jährige durch die hintere Tür den Raum betritt und langsam nach vorne zu seinem Rednerpult geht, herrscht sofort Stille. Er schaut nicht links oder rechts, seine offensichtliche innere Ruhe und seine spürbare Souveränität lassen alle im Saal sofort erkennen: Hier kommt eine ganz besondere Persönlichkeit. Nach einigen Minuten der Konzentration am Pult schaut er in den Saal, lächelt und beginnt, von seiner Lebensreise zu erzählen.

„Ich gebe euch keinen Geschichtsunterricht. Ich beschreibe, was mir persönlich angetan wurde und warum ich heute vor euch sprechen will und kann.“

Mit seinen vier älteren Schwestern wächst er in einfachen Verhältnissen auf. Nach dem frühen Tod des Vater muss die Mutter mit einer kleinen Wäscherei die Familie allein zusammenhalten und versorgen. Wenn Leon Weintraub die Enge, das karge Essen, den Geruch und Geschmack von Kohlrübensuppe oder die Hitze der Mangelstube beschreibt, wird das bescheidene Leben fühlbar. „Ich liebte die Schule. Es war eine andere Welt für mich. Ich habe gerne gelernt und hatte sehr gute Noten.“

Den Besuch des Gymnasiums hätten die Nazis aber mit dem Einmarsch in Polen verhindert. „Ich hörte die Wehrmacht mit nagelbesohlten Stiefeln über das Kopfsteinpflaster marschieren. Unaufhaltsam. Das strahlte so viel Kraft und Macht aus. Ich spürte, diese jungen starken und gesunden Männer sind nicht aufzuhalten.“

Dem Einmarsch der Wehrmacht folgen neue Verordnungen, die das Leben der Juden in Lodz einschränken – und das Ghetto Litzmannstadt. Als Zwangsarbeiter lernt Leon Weintraub dort vor allem den Überlebenssatz: Solange man nützlich ist, muss man (noch) nicht sterben.

Nach der Niederlage der Wehrmacht in der Schlacht von Stalingrad beginnen im Ghetto die Deportationen. Familie Weintraub sitzt, wie viele andere, im Güterzug zum KZ Auschwitz-Birkenau. „Schnell verteilte sich Gestank im Waggon. Ich hörte kein Gewimmer, keine Proteste, keine Empörung. Es war eine lähmende Stille. Die Entmenschlichung, die Entwürdigung, die schwere Arbeit, Kälte und vor allem der Hunger ließen keine Gedanken mehr zu. Es ging nur darum, zu überleben.“

Ab 1944 erlebt Leon Weintraub die systematische Vernichtung der Juden. Tag und Nacht rauchen die Schlote der Krematorien. Das letzte Mal sieht er seine Mutter an der Selektionsrampe in Auschwitz. Für ihn selbst unerwartet mutig, gelingt es ihm, sich an einem Morgen unbeobachtet einem Gefangenentransport anzuschließen und Auschwitz zu entkommen.

Leon Weintraub landet zunächst im Konzentrationslager Groß-Rosen und wird zum Ende des Krieges noch zweimal verlegt. Zusammen mit acht anderen Häftlingen kann er bei einem dritten Transport am 23. April 1945 noch einmal mit viel Glück in der Nähe von Donaueschingen fliehen. Auf dem Weg in die Stadt werden sie von französischen Soldaten befreit.

Der KZ-Häftling ist plötzlich, mitten im Wald, wieder ein freier Mann. Zufällig erfährt vom Überleben drei seiner älteren Schwestern im KZ Bergen-Belsen und bald sind die Überlebenden der Familie wieder vereint.

Eine neue Zukunft kann langsam beginnen. „Ich habe glücklicherweise die Fähigkeit, immer wieder neu anzufangen. Ich war jahrelang auf Tuchfühlung mit dem Tod. Mir war klar, dass ich mich nach der Zeit im KZ dem Leben zuwenden wollte“, sagt der 97-Jährige. Deshalb habe er Medizin studiert und sei Gynäkologe und Geburtshelfer geworden. „Wir sind als Menschen geboren und sollten unser Leben auch als Mensch beenden. Seid freundlich zueinander und hört nicht auf, miteinander zu sprechen.“

Nach beinahe zwei Stunden Stille im Saal löst sich die Konzentration und Sprachlosigkeit der Schüler mit einem langen Applaus.

„Sie haben sich der Unmenschlichkeit angepasst“

Einen Tag nach dem Besuch bei den Schülerinnen und Schülern in Korbach steht Leon Weintraub abends am Pult in der ehemaligen Synagoge Vöhl. Der gleiche Anlass, die gleiche Geschichte, der gleiche Mensch. Und doch ist es anders. Er weiß, er trifft auf ein erfahrenes Publikum. Es gibt also Raum – sogar für kleine Scherze, nicht jedes Wort muss abgewogen werden. „Ich bin von Stockholm in zwei kleine nordhessische Orte gefahren, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Es ist eindrucksvoll. Ich habe mit vielen wunderbaren Menschen gesprochen und stehe jetzt zum ersten Mal in einer Synagoge in einem kleinen Fachwerkhaus. Ich fühle mich sehr wohl“, sagt der 97-Jährige.

Wenn er hier von der Wäscherei der Mutter erzählt, dann erinnern sich viele im Saal, daran, wie es war, als die Mutter oder Großmutter im heißen Wasser auf dem harten Waschbrett die Wäsche rieb. Aus alten Erzählungen in der Familie ahnen sie, was es heißen kann, von September 1939 bis April 1945 Hunger zu haben. Einen Hunger, der unablässig schmerzt. Sie sind entsetzt, als sie von der Arbeit der Kapos, der Funktionshäftlinge, erfahren.

„Als wir in Auschwitz ankamen, hat mir ein Kapo meine Briefmarkensammlung abgenommen“, berichtet Leon Weintraub „Als ich sie wieder haben wollte, sagte er nur: Die brauchst Du nicht mehr. Du bist nicht hier, um zu leben. Immer wieder habe ich gesehen und erlebt, wie diese Menschen sich der Unmenschlichkeit ihrer Arbeitgeber anpassten.“ Er spüre bis heute, dass sein Körper sich verändere, wenn er daran denke. Es sei noch einmal schlimmer, von den eigenen Leuten verfolgt und gedemütigt zu werden. „Ich hatte nie eine große Bindung an die jüdische Religion, aber hätte ich sie gehabt, in Auschwitz hätte ich sie verloren.“

„Leon Weintraub ist einer der letzten Menschen, der aus eigener Erfahrung von diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte berichten kann“, sagt Valerie van der Kraan aus Frankenau. Sie ist beeindruckt. „Es berührt sehr, wie er das Grauen auf die kleinen Momente zurückholt. Wie er sich selbst zurücknimmt, keine Schuld zuweist. Er hat viele Jahre seines Lebens verloren und sich doch sein Leben zurückgeholt und ein neues aufgebaut.“

Astrid Sommer und ihr Mann hatten einen ganz besonderen Grund, aus Essen zu diesem Vortrag anzureisen. „Der Vater meiner Tante ist deportiert und ermordet worden. Sie haben hier in Vöhl in der Nachbarschaft der Synagoge gelebt“, erzählen sie. Mit Blick auf den Vortrag Leon Weintraubs betonen sie: „Die ruhige und sachliche Schilderung seines Lebens hat uns persönlich viel erklärt. Frei von Anklagen erzählt er, wie es trotz allem weiterging. Er hatte wohl immer die Hoffnung, weitergehen zu können. Und wie er sein Leben gestaltet hat, ist einfach großartig. Genauso großartig ist es, dass es Karl-Heinz Stadtler gelungen ist, ihn hierher zu holen in die alte Synagoge.“

Nach seinem Vortrag beantwortet Leon Weintraub in der Vöhler Synagoge noch viele Fragen und signierte Bücher oder Plakate.
Nach seinem Vortrag beantwortet Leon Weintraub in der Vöhler Synagoge noch viele Fragen und signierte Bücher oder Plakate. © Barbara Liese

Er habe, so betont es Leon Weintraub, die Ereignisse inzwischen verarbeitet und rationalisieren können. Es gäbe kaum ein Ereignis in der Weltgeschichte, das so gründlich in Wort und Bild von den Tätern, den Überlebenden oder Wissenschaftlern dokumentiert werde. Jedes Mal aber falle nach einem Vortrag, wenn er seine Pflicht der Erinnerungsarbeit erfüllt habe, gerade auch in Schulen, eine Last von seinen Schultern.

Die Zuhörer in der voll besetzten Synagoge erinnert er daran, nicht zu vergessen. „Es waren nicht nur Einzelne. Es waren Deutsche. Wir müssen gemeinsam die Erinnerung wachhalten.“ Nach einem langen Applaus im Stehen beantwortet Leon Weintraub noch viele Fragen und signiert Bücher.

Von Barbara Liese

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