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„Online wird Lebenszeit verbrannt“: Digital-Experten über junge Menschen im Netz

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Von: Julia Janzen

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Eine Jugendliche mit einem Smartphone in der Hand
Was sind erste Anzeichen für eine Online-Sucht? Experten geben Antworten. © Weronika Peneshko/dpa

Rund 50 Teilnehmer waren jetzt beim ersten Fachtag Digitale Kindheit und Jugend in Korbach dabei. Experten aus Hannover informierten rund um digitale Medien und luden zu Workshops ein.

Korbach – Wie wirken sich Computerspiele, soziale Medien & Co. auf die Entwicklung von jungen Menschen aus? Wann sollten Kinder mit digitalen Medien überhaupt in Berührung kommen? Die Digital-Experten Eberhard Freitag und Reemt Itzenga von der Fachstelle Mediensucht „return“ referierten kürzlich bei einem Fachtag in Korbach über die Fragen, die viele Eltern bewegen und standen im Interview Rede und Antwort.

Ab wann kann man Kindern Handy & Co. zugänglich machen?

Eberhard Freitag: Ein Alter kann man schlecht benennen, es ist auch abhängig von den Bedingungen, unter denen es verfügbar ist: Ist es ein eigenes Gerät? Ein Leihgerät, das den Eltern gehört? Abhängig ist das auch vom Entwicklungsstand des Kindes. Wir ermutigen die Eltern zu schauen, wo das eigene Kind steht und was man ihm zumuten kann – nicht zu schauen, was in einem Ratgeber steht. Da würde man es sich zu leicht machen.

Reemt Itzenga: Bis zum Alter von 13 oder 14 ist es gut, zu begrenzen.

Freitag: Wenn ich es entscheiden dürfte – wohlwissend, dass es utopisch ist – würde ich sagen: Vor 14 kein eigenes Gerät mit Internetzugang. Ab 14 ist man strafmündig.

In einem Vortrag haben Sie gesagt, dass Medienerziehung immer konflikthaft sei. Das kennen Eltern natürlich. Wie findet man einen gemeinsamen Weg mit dem Kind?

Itzenga: Wichtig ist, dass Eltern sich mit dem auseinandersetzen, was die Kinder machen. Ruhig auch selbst mal ausprobieren, sich ein Spiel beispielsweise erklären lassen und das Kind so in eine Expertenrolle bringen. Die Eltern sollten verstehen wollen, was für eine Faszination dahinter steckt.

Zwei Männer an einem Geländer
Reemt Itzenga (links) und Eberhard Freitag von der Fachstelle Mediensucht „return“ © Janzen, Julia

Freitag: Eltern und Kinder sind sehr schnell in einer Basarsituation und handeln. Es passiert auch, dass Eltern irgendwann das Gefühl haben, dass es jetzt genug ist mit Spielen und dann das Gerät wegnehmen. Das ist für das Kind immer ungerecht, weil es nicht nachvollziehen kann, warum das Handy jetzt gerade weggenommen wird. Ab einem bestimmten Alter ist die Frage gar nicht mehr zu klären, wie viele Stunden am Tag ein Kind das Gerät nutzen soll.

Sondern?

Freitag: Ich drehe das um und frage: Wann bist du bewusst nicht vor einem Bildschirm? Es sollte ein konsequent Bildschirm-freies Zeitfenster am Tag geben. Das stellt die Kinder dann vor die Alternativen, sich entweder zu langweilen oder zu schauen, was in der analogen Welt so los ist. Wenn Kinder die freie Entscheidung haben, werden sie vielfach oder fast immer das Digitale wählen, weil sie ihre Bedürfnisse im Vergleich zur analogen Welt mit weniger Einsatz und Aufwand befriedigen können. Dann sind wir in der Basarsituation und finden nie einen Konsens. Kinder haben noch nicht die Bereitschaft zu einer echten Auseinandersetzung um Zeiten. Ihr Ziel ist, möglichst viel Bildschirm-Zeit zu kriegen. Die Diskussion dreht sich immer im Kreis und sie nervt alle Seiten.

Auch während des Vortrags haben Sie deutlich gemacht, dass bei Spielen oder Social Media das Belohnungssystem angesprochen wird. Online gebe es schnell viele Belohnungen, Nutzer wollten das immer wieder haben. Belohnungen in der analogen Welt seien schwieriger zu bekommen. Wie kann man Kinder dennoch auf den schwierigeren Weg bringen?

Freitag: Ein wichtiger Punkt ist, dass die analoge Welt entdeckt und bespielt wird, auch im Zusammenhang mit Beziehungserfahrungen. Ich ermutige Eltern dazu. Frage beispielsweise, wann ein Vater mal bewusst seine Tochter zum Essen ausgeführt und ihr bewusst seine Aufmerksamkeit gewidmet hat. Das ist auch ein Bedürfnis, das wird analog befriedigt und hat damit auch eine andere Tiefe. Das in Kombination mit Bildschirm-freien Zeiten, die nicht verhandelt werden und einfach da sind.

Experten der Fachstelle Mediensucht „return“

Eberhard Freitag ist Gründer und Geschäftsführer der Fachstelle, er ist Diplom-Pädagoge. Reemt Itzenga ist Sozial- und Religionspädagoge. Die Fachstelle bietet Beratungen, Prävention, Fortbildungen, Workshops, Vorträge und Selbsthilfegruppen. Weitere Infos gibt es auf der Internetseite von „return“.

Itzenga: In der analogen Welt gibt es eher langfristige Bedürfnisbefriedigung. Wenn ich beispielsweise mit meinem Vater mein Zimmer renoviert habe und beim Blick auf die Tapete immer sagen kann „Das habe ich gemacht“.

Wie wirken sich Computerspiele und soziale Medien auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern aus?

Freitag: Eine Frage ist: Gibt es einen Transfer ins analoge Leben? Im Spiel kann ich auch eine Menge lernen. Wer international spielt, lernt besser englisch. Das ist auch sinnhaft in der analogen Welt. Aber da hört es auch fast schon auf. Für die Fähigkeiten, die im Spiel trainiert werden, gibt es in der analogen Welt kaum Anwendungsmöglichkeiten. Die Zeit, die verbracht wird in der Spielewelt und was ich dort lerne, stehen in keinem Verhältnis zu dem, was ich in der analogen Welt in dieser Zeit hätte lernen können. Online wird Lebenszeit verbrannt. Die digitale Industrie monetarisiert die kostbare Zeit unserer Kinder. Das dürfen wir nicht zulassen.

Was sind erste Anzeichen für eine Sucht?

Itzenga: Erste Anzeichen sind eine Verschiebung der Prioritäten: Ein Online-Spiel beispielsweise ist interessanter als die Freunde, mit denen sich jemand sonst gern getroffen hat. Bei Jugendlichen ist man aber vorsichtig mit einer solchen Diagnose, weil es oft eine exzessive Phase gibt.

Freitag: Risikofaktoren spielen eine Rolle. Wenn es stabile familiäre Beziehungen gibt, der Sohn begeistert zockt, aber auch gern zum Handball geht und in der Schule stabil ist, handelt es sich eher um eine exzessive Phase. Die muss man gut begleiten, aber der wird eher nicht in ein Suchtproblem geraten. Wenn es aber nicht gut läuft im analogen Leben, es Brüche im Leben gibt, jemand hat also gute Gründe, sich in die digitale Welt zu flüchten, ist die Gefahr größer, dass sich das Spielverhalten verfestigt.

Durch Corona hat sich die Mediennutzung vervielfacht, zeitweise durften sich junge Menschen nicht treffen, das meiste spielte sich online ab. Spüren Sie deshalb eine verstärkte Nachfrage?

Freitag: Mehr Anfragen gibt es nicht, viele Eltern haben aber gemerkt, dass sich etwas eingeschlichen hat, was sie nicht mehr rausbekommen. jj

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