Von Schulbank in Korbach ins DDR-Gefängnis: Walter Julien Samiec wird 1968 in Ostberlin verhaftet

Ein besonders dramatisches Kapitel der deutschen Teilung spielte sich 1968 ab. Wegen Fluchthilfe geriet ein Korbacher Schüler in die internationalen Schlagzeilen.
Korbach/Bad Arolsen – „Was wäre wenn?“, immer wieder stellt er sich diese Frage. Wenn er nicht mit 17 Jahren fünf Monate lang in einem DDR-Gefängnis gesessen hätte. Verurteilt wegen Beihilfe zur Republikflucht. „Wie kann man nur so naiv sein?“, fragt sich Walter Julien Samiec aus Bad Arolsen immer noch selbst.
Sommer 1968. Abschlussklasse der Realschule Korbach. Wie ungezählte andere Schüler aus dem Westen wollten auch die Waldecker nur einen Blick über die innerdeutsche Grenze werfen bei einem Abstecher nach Ostberlin.
Bei Samiec, gerade 17 geworden, kam einiges zusammen, das ihn labil und angreifbar machte. Der Sohn einer Familie von Heimatvertriebenen war durch die Studentenrevolte infiziert. Da war es schick, sich im Osten auch die einschlägige Literatur zu kaufen. Sozusagen direkt an der Quelle. Das Kapital von Marx etwa. oder Bertolt Brechts Gedichte. „Andererseits war mir bewusst, dass die DDR eine üble Diktatur war“, sagt er heute. „Sonst hätte mich der Mensch nicht einfangen können.“
„Der Mensch“ war ein etwa zwei Jahre älterer Mann in Ost-Berlin. Er erkannte Samiecs Schwächen. „Peter“, wie er sich nannte, erzählte ihm, wie einfach die Flucht für ihn wäre. Der Westler müsse ihm nur seinen Personalausweis überlassen. Mit dem könne Peter ganz einfach das Land verlassen. Auch Samiec als Westdeutscher werde dann keine Probleme haben, ohne Papiere zurück in die Heimat zu kommen. Er müsse nur den Ausweis als gestohlen melden.
Schön wär‘s gewesen: Als Peter, wie abgesprochen, die Samiec-Jacke im Cafe Intershop vom Haken nimmt und mit dem Ausweis verschwindet, lernt der junge Wessi eine andere DDR kennen: Er wird verhaftet, in ein Gefängnis gesteckt und subtilen Verhörmethoden ausgesetzt. Schlaf- und Essensentzug zum Beispiel. Rauchen als Strafe und Belohnung. „Die hatten alle Tricks drauf, die man aus Fernseh-Krimis kennt.“ Seine schlanken Hände unterstreichen ständig gestenreich das Gesagte. Als male er ein Bild in den Raum.
Unter den Klassenkameraden und Lehrern löst das einen regelrechten Schock aus. „Wir durften uns nicht mehr frei bewegen“, sagt ein Mitschüler von damals. Die Lehrer behalten sie ständig im Auge – aus Angst, noch mehr von ihnen zu verlieren. Die Bundesregierung lässt die Klasse schließlich – sicher ist sicher – per Chartermaschine von Berlin nach Hannover ausfliegen. Dort steigen die Klassenkameraden in die Busse der Hinfahrt um.
Samiec lebt jetzt in Bad Arolsen. Auch 50 Jahre danach ist er noch sichtlich ergriffen, wenn die Sprache auf das dunkle Kapitel kommt. Immer wieder macht er Pausen, schließt die Augen, denkt nach. Er findet ein Bild für das erste Zusammentreffen der jungen Männer: „Der Fuchs streift durch den Wald. Da sieht er den Hasen und sagt sich: Den fang ich mir.“
Der Schüler aus der Provinz lässt sich offenbar übertölpeln. Bestenfalls habe der andere gefühllos gehandelt. „Aber es ging ihm wohl ums Geld“, wie Samiec bei einem zweiten und letzten Treffen feststellt. Auf Initiative einer Illustrierten („Stern“) hatten sie sich acht Jahre später noch einmal gesehen.
Die stundenlangen Verhöre haben ihre Spuren hinterlassen. Fünf Monate bleibt er im Knast. Teils in Einzelhaft, teils mit acht weiteren Häftlingen, darunter Mörder und Schwerverbrecher, wie er sagt. Dann kommt der 17-Jährige zwar frei. Aber sein Leben ist ein anderes.
Julien Samiec arbeitet drei Monate am Bau, wechselt dann zur ALS. Nach eineinhalb Jahren wirft er das Handtuch. Er wählt den anderen Weg: Fachoberschule, Studium des Sozialwesens in Kassel. Anstellung im Bathildisheim in Bad Arolsen. Rund 30 Jahre kümmert er sich um behinderte Menschen. (Günter Göge)