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Missbrauchs-Skandal: Eltern von ehemaligen Messdienern erzählen

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Im Schatten des Fritzlarer Domes: Eltern erzählen von ihren Emotionen und Befürchtungen nach der Verhaftung eines Priesters wegen Missbrauchs.

Fritzlar. Die Gedanken sind immer da – seit fast einem Monat. Nachts, wenn die Mutter plötzlich aufwacht, am Tag, an der Arbeit und in der Freizeit. Die Gefühle gehen durcheinander, da sind Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und diese bohrende Ungewissheit.

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Natürlich hat sie ihren Sohn gefragt, ob etwas geschehen war in der Zeit, als er Messdiener war. „Eigentlich nicht“, habe er gesagt. Eigentlich. Ein Wort, das quälen kann, weil es so vieles offen lässt. Zwei Eltern, deren Söhne Messdiener in Fritzlar waren, haben unserer Redaktion geschildert, wie es ihnen geht, seit der Priester Michael L. wegen sexuellen Missbrauchs in Haft sitzt.

Ihre Namen wollen beide nicht in der Zeitung lesen; vor allem, weil sie ihre Söhne schützen wollen vor Stigmatisierung und dummen Kommentaren.

Plötzlicher Ausstieg

Einer der Jungen gab sein Amt auf, weil er Widersprüche in der Kirche sah, wie er erklärte. Der andere stieg mit 14 aus. „Er sagte, er hätte keinen Bock mehr“, erzählt die Mutter. Komisch kam ihr das damals nicht vor, der Junge war in der Pubertät. Null Bock ist da nicht ungewöhnlich.

Doch nun fragt sie sich, ob es doch andere Gründe hatte. Ja, es habe übergriffiges Verhalten gegeben, sagt ihr Sohn, er selber sei aber nicht betroffen. „Wenn etwas wäre, würde ich es sagen“, antwortete der andere seinem Vater.

Sie wollen ihren Kindern glauben, aber was ist, wenn die Jungen ihre Erlebnisse irgendwann einmal anders einschätzen. Wie werden sie die Zeit in zehn, 20 oder 30 Jahren bewerten? Was, wenn sie etwas verdrängen? Oder wegen Schuldgefühlen schweigen, wie es bei Missbrauchsopfern häufig vorkommt? Gewissheit gibt es vielleicht nie. Die Ex-Ministranten wollen über das Thema nicht reden, auch mit anderen Jungen sei das kein Thema.

Aber Gerüchte machen die Runde. „Öl-Michael“ sollen sie den Priester genannt haben, weil er die Jungs gerne einölte. Im Schwimmbad soll es Wettkämpfe gegeben haben, bei denen die Verlierer im Anschluss nackt nach Geldmünzen tauchen sollten. Wie gesagt, Gerüchte nur. Aber all diese Geschichten sorgen dafür, dass bei den Eltern das Gedankenkarussell wieder beginnt. Immer wieder.

Damals nicht merkwürdig

Vieles kommt den Eltern jetzt merkwürdig vor, was sie damals nicht bemerkten. So sei das Wigbert-Haus, in dem sich die Ministrantengruppe mit Michael L. traf, immer abgeschlossen gewesen. So bestand keine Gefahr, dass einer der Jüngeren wegläuft. Aus heutiger Sicht heißt es auch: Kein Vater und keine Mutter konnte überraschend ins Haus kommen und vielleicht etwas Auffälliges sehen.

Die Gefühle, die diese Eltern durchleben, sind ein Chaos. Mal, so sagt die Mutter, wünscht sie sich einen Pranger wie im Mittelalter, dann sagt ihr der Kopf, dass das nicht geht und dass Rache nichts bringen würde.

Wut und Zweifel

Trauer, Wut, Ärger und Angst – alles laufe nebeneinander. „Man geht schon bei Kleinigkeiten hoch“, beschreibt der Vater in unserem Gespräch seine Gefühlslage. Dann bekommen andere die Wut ab, Menschen, die mit dem Missbrauch nicht das Geringste zu tun haben.

Die Ungewissheit und die Zweifel, ob doch viel mehr passiert ist, sind wohl das Schlimmste. Sie nagen immer weiter. Der Vater sagt: „Die Ohnmacht, die ist wie ein Flitzebogen.“

Von Olaf Dellit

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