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Mordprozess um falsche Ärztin: Müssen 500 Zeugen gehört werden?

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Von: Thomas Stier

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Vor Gericht: Im Saal D 130 des Kasseler Landgerichts wird derzeit mittwochs gegen Meike S. verhandelt – auch heute. Ihre Verteidiger wollen alle rund 500 Patienten der falschen Ärztin als Zeugen zu hören.
Vor Gericht: Im Saal D 130 des Kasseler Landgerichts wird derzeit mittwochs gegen Meike S. verhandelt – auch heute. Ihre Verteidiger wollen alle rund 500 Patienten der falschen Ärztin als Zeugen zu hören. (Archivbild) © Dieter Schachtschneider

Der Prozess gegen Meike S. ist einer der größten in der Justizgeschichte von Kassel. Nun könnte es sein, dass 500 Patienten als Zeugen gehört werden müssen.

Kassel/Fritzlar – Schon heute ist das Mordverfahren gegen Meike S. eines der größten in der Kasseler Justizgeschichte: Bisher wurden an den über 40 Verhandlungstagen schon 125 Zeugen gehört. Jetzt könnte es sogar erforderlich werden, auch alle rund 500 Patienten der Frau als Zeugen zu hören. Die heute 50-Jährige hat von 2015 bis 2018 am Hospital zum Heiligen Geist in Fritzlar als Ärztin gearbeitet, ohne eine zu sein.

Einen entsprechenden Beweisantrag haben die Verteidiger der falschen Ärztin Meike S., Dr. Sven Schoeller und Thomas Hammer, inzwischen vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Kassel in dem Mordprozess gestellt. Die Strafkammer von Richter Volker Mütze hat aber noch nicht über dessen Zulassung entschieden. Würden jetzt auch noch alle Patienten gehört werden müssen, erreichte der Prozess historische Ausmaße.

Falsche Ärztin Meike S. vor Gericht in Kassel: Gutachten sollen Lernfortschritt aufzeigen

Zum Vergleich: Im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht in München, wo eine deutschlandweite Mordserie mit zehn Opfern rechtsextremer Täter verhandelt worden war, waren 541 Zeugen und 46 Sachverständige gehört worden.

Meike S., die nie ein Medizinstudium abgeschlossen hat und deren beide Doktortitel ihr inzwischen aberkannt wurden, ist wegen fünffachen Mordes angeklagt. Fünf Menschen, bei deren Operationen sie in der Fritzlarer Klinik für die Narkose zuständig war, sind gestorben. Noch ist das Gericht damit beschäftigt, die zwischen 400 und 500 Gutachten über jene Operationen zu hören, bei denen Meike S. für die Anästhesie zuständig war. Zwei Verhandlungstage werden noch für diese Gutachten veranschlagt.

Seit Wochen erläutern die Professoren und Anästhesisten des Uniklinikums Gießen, Dr. Michael Sander und Dr. Matthias Wolff, ihre Gutachten zu Operationen, die eigentlich gar nicht Gegenstand der Anklage sind und bei denen es zu keinen Komplikationen gekommen war. Tatsächlich ist das Verfahren auf 16 Operationen beschränkt, darunter die mit tödlichem Ausgang.

Kassel: Im Prozess um falsche Ärztin Meike S. werden rund 500 Gutachten vorgestellt

Die Verteidigung verspricht sich von den vielen Gutachten den Nachweis, dass bei Meike S. trotz fehlender Kenntnisse bei der Anästhesie gewisse Lernfortschritte machte. Durch diese wachsende Expertise habe sie davon ausgehen können, dass ihre Operationen erfolgreich beendet werden können und die Patienten nicht sterben würden. Würde das Gericht dieser Argumentation folgen, wären der Tötungsvorsatz und damit auch der Mordvorwurf vom Tisch.

Rund 500 Gutachten: Diese schier unglaubliche Zahl von Sachverständigen-Einschätzungen werden beim Mordprozess gegen die falsche Ärztin Meike S. vor der 6. Strafkammer des Kasseler Landgerichts vorgestellt. Dieser sehr umfangreichen Aufgabe stellen sich zwei Professoren des Universitätsklinikums Gießen. Dr. Michael Sander und Dr. Matthias Wolff.

Beide sind selbst lehrende, forschende und praktizierende Anästhesisten und somit ausgewiesene Fachleute. Um die 80 Gutachten stehen noch aus. Dann, so Staatsanwalt Dr. Poppe, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Kassel, wolle sich die Verteidigung erklären, ob tatsächlich hunderte von Patienten als Zeugen geladen werden sollen.

Kassel: Gutachter bezweifelt neue Erkenntnisse durch Patientenaussagen

Ob diese dem Gericht neue Erkenntnisse bescheren würde, hat der Gutachter Wolff bezweifelt. Bei den von Meike S. betreuten Operationen sei fast immer das Betäubungsmittel Propofol eingesetzt worden, das bereits fünf Sekunden nach der Gabe wirkt und bei den Patienten häufig zu Wahrnehmungsstörungen führe. Eindeutige Aussage zum Operationsgeschehen seien daher kaum zu erwarten, zumal die Patienten vor und während der Operation gar nicht ansprechbar seien.

Wolff: „Propofol führt zu schönen Träumen.“ Es erscheine fraglich, ob die Menschen vor Gericht verwertbare Aussagen zur Operation machen könnten. Mit einem schnellen Urteil ist wohl auch nach mehr als einjähriger Verhandlungsdauer nicht zu rechnen: Seit Jahresbeginn verhandelt die 6. Strafkammer immer mittwochs gegen Meike S., die bislang zu allen Vorwürfen schweigt.

Prozess in Kassel: Verhandlung des Falls Meike S. jeden Mittwoch

Auch am heutigen Mittwoch, 16. Februar, geht es ab 9 Uhr in Saal D 130 weiter. Allerdings haben die Gutachter heute Pause, bislang soll lediglich ein Zeuge gehört werden. Wie lange das Verfahren auch noch dauern mag, die Angeklagte bleibt vorerst hinter Gittern in Untersuchungshaft. Ein im Januar gestellter Antrag der Verteidigung auf Haftverschonung blieb erfolglos: Die Strafkammer lehnte ihn ab.

Die Ermittlungen gegen Meike S. kamen schon weit vor Prozessbeginn am 27. Januar 2021 ins Rollen: Im Februar 2019 berichtet die HNA erstmals über die „falsche Ärztin“ am Fritzlarer Hospital. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Frau verdächtigt, sich als Ärztin ausgegeben zu haben und nicht über eine Approbation zu verfügen.

Sorgen über den Gesundheitszustand der Patienten gab es nach ersten Durchsuchungen aber offenbar noch nicht. Das änderte sich in den nächsten Monaten: Im Mai 2020 erhob die Staatsanwaltschaft Kassel Anklage gegen Meike S. Der Vorwurf: Mord in fünf Fällen, gefährliche Körperverletzung in elf Fällen und zahlreiche weitere Punkte. (Thomas Stier)

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