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Gelebte Integration: Vier Jahre als erster Afro-Bürgermeister in Niedersachsen

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Von: Thomas Kopietz

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Glücklich auf dem Dorf: Chicgoua Noubactep (52), Bürgermeister von Rittmarshausen.
Glücklich auf dem Dorf: Chicgoua Noubactep (52), Bürgermeister von Rittmarshausen in der Gemeinde Gleichen vor dem Ortsschild. Der Geowissenschaftler wurde 2016 als erster afrikanischstämmiger Bürgermeister in Niedersachsen gewählt. © Michael Caspar

Die Geschichte von Chicgoua Noubactep ist die Geschichte einer gelebten Integration. Der 52-jährige gebürtige Kameruner ist seit vier Jahren Bürgermeister von Rittmarshausen im Landkreis Göttingen.

Rittmarshausen - Ich bin hierher gekommen, um Bürgermeister zu werden!“ Der Mann, der das lachend sagt, ist der Bürgermeister von Rittmarshausen, eines 770-Einwohner-Dorfes im Gartetal, etwa 20 Kilometer südöstlich von Göttingen. Dr. Chicgoua Noubactep hat es geschafft, ist der erste afrikanischstämmige Bürgermeister in Niedersachsen – und das seit vier Jahren. 35 Prozent der Rittmarshäuser hatten ihn gewählt, der damals gerade drei Jahre im Ort wohnte. Er gewann klar vor den Mitbewerbern. Angetreten war er, weil man einen Kandidaten mit Migrationshintergrund auf der Wahlliste suchte. „Also habe ich da unterschrieben.“

Er sei dankbar für das ihm entgegengebrachte Vertrauen – und gibt es zurück, kümmert sich um sein Dorf. „Die Arbeit ist aber nicht sehr kompliziert“, sagt der Bürgermeister, der anfangs für Medienrummel sorgte. Er ist die Verbindungsperson zwischen Bewohnern und der Verwaltung in Reinhausen, verteilt deren Post, gibt Beschwerden weiter, betreut Veranstaltungen wie Thie- und Adventsfest sowie den Dorfflohmarkt. Als Repräsentant ist er dann natürlich dabei und „lacht ein bisschen“.

Das tut Chicgoua Noubactep ohnehin gerne. Er ist ein fröhlicher Mensch. „Afrikaner“, wie er sagt, „es ist ein Lebensgefühl.“ Noubactep engagiert sich für Afrika, leistet als Hydrogeochemiker auch direkte Entwicklungshilfe, zeigt vor Ort in Kursen, wie Wasser mit einfachen Mitteln aufbereitet wird, wie man an Basiswissen kommt. „Es geht doch darum, zu zeigen, dass es geht. Man muss nicht reich sein, um Forschung zu machen, Entwicklungshilfe zu leisten. Man muss nur wollen“, sagt der Wissenschaftler, der in Freiberg in Sachsen promovierte, später von Jena mit einer Arbeitsgruppe an die Uni-Göttingen ging. „Über afrikanische Beziehungen“ bekamen er und seine Frau eine Wohnung in Krebeck. Dann ging es über Göttingen 2011 nach Rittmarshausen.

In Krebeck kickte Noubactep im Dorfverein. Seine Leidenschaft Fußball lebte er zuvor auch in Sachsen. „Ich bin Dynamo-Fan und verehre Mathias Sammer.“ Überhaupt: Sport und Fußball halfen auch bei der Integration. „Sportler sind offen, Probleme sind nur kurz Probleme“, sagt Noubactep. Beleidigungen hat er wegen seiner Hautfarbe auf den Sportplätzen „nie erleben müssen“.

Nie? Einmal doch: Er hat die Situation verdrängt und damals so getan, als hätte er nichts gehört. Abgehakt. Dieses Ereignis wollte einfach nicht in das Weltbild des Chicgoua Noubactep passen, der sich als Weltbürger sieht. Für manche sei es wichtig, die Nationalität zu nennen – für ihn nicht. „Ich komme zwar aus Kamerun, aber ich habe einen deutschen Pass und ich bin Afrikaner.“

Rechtsradikale und Rassismus sind für Noubactep zwar keine bestimmenden Themen im Alltag., aber sie beschäftigen ihn. Ein Bekannter wurde von jungen Rechten in Sachsen verprügelt. Auch in Deutschland gebe es unterschwelligen Rassismus. Der müsse in den Schulen stärker bekämpft werden. „Dort, wo man lernt, dass es Rassen gibt.“ Besorgt ist Noubactep vor allem um seine vier Kinder. Sie sind hier aufgewachsen und „sie wollen alle hierbleiben“, sagt der Vater.

Es ist seine so positive Grundeinstellung, der Humor, die Offenheit, die dem heute 52-jährigen ermöglicht haben, fix nach seiner Ankunft 1995 in der Fremde klarzukommen. Seltsam war, dass er plötzlich für sich alleine kochen musste: „In Kamerun lebten 18 Menschen und mehr in unserem Haus.“ Gekocht, gegessen wurde immer zusammen. „In Deutschland eine Portion für mich alleine zu kochen, das war der Horror“, amüsiert er sich.

Das sozial engere Dorfleben passt deshalb zu ihm: Hier öfter Besuch im eigenen Haus, dort ein Schwatz über den Gartenzaun beim abendlichen Dorfrundgang. „Das Beste hier ist: Jeder hat die Wahl – wenn Du mitmachen willst, kannst Du das tun, wenn nicht, bleibst Du zu Hause“, benennt er die Vorteile des Dorflebens. „Das Entscheidende ist, dass wir ein gutes soziales Miteinander haben.“

Im Arbeitszimmer: Chicgoua Noubactep
Im Arbeitszimmer: Chicgoua Noubactep hat sein Büro im Feuerwehrhaus von Rittmarshausen. © Michael Caspar

Für sein Dorf würde er sich mehr Unterstützung wünschen, auch finanzielle. „Es besteht die Gefahr, Pleite zu gehen, wenn man den Über-80-Jährigen einen 15-Euro-Edeka-Gutschein zur Grußkarte beilegt.“ Es werde zu sehr gespart, das sei nicht gut. Und die Ehrenamtlichen, die vieles auffangen, würden stetig weniger. „Die Post ist zu, die Sparkasse hat nur noch einen Automaten.“ Kurzum: Rittmarshausen ist ein Spiegelbild für viele ländliche Orte.

Der „Chef“ muss dennoch keine Werbung für das Wohnen in seinem Dorf machen, wie er sagt, denn dafür habe Corona gesorgt. „Hier war es entspannt, nicht so stressig wie in Städten, es gab nur drei Infizierte.“ Und die Mieten sprächen fürs Leben auf dem Land. Häuserleerstände gibt es in Rittmarshausen selten. „Und wenn, nur kurz“, sagt der Bürgermeister. (Thomas Kopietz)

Interview mit Chicgoua Noubactep: „Es gibt keine überlegenen Rassen“

„Jahrhunderte der Kolonialherrschaft haben uns Afrikanern die Seele geraubt.“ Das sagt der erste aus Afrika stammende, gewählte Bürgermeister in Niedersachsen. Mit Chicgoua Noubactep sprachen wir über Rassismus und Flucht.

Sie haben in Deutschland als Wissenschaftler Karriere gemacht. Sollte die Bundesrepublik stärker als bisher ihre Tore für begabte junge Menschen aus dem Ausland öffnen?

Viele meiner Studierenden in Afrika, wo ich regelmäßig als Gastwissenschaftler tätig bin, wollen in den Westen. Ich selbst habe nach dem Masterabschluss in Chemie in meiner Heimat Kamerun keine Perspektive gesehen. Trotzdem beginne ich alle Vorlesungen in Afrika mit einem Hinweis: ‘Ihr lebt bereits im Paradies. Ihr müsst nicht nach Europa oder Amerika. Macht euer Glück in Afrika. Hier werdet ihr gebraucht.’

Ist das angesichts von Krieg und Terror, Korruption, Alleinherrschern und oft miesen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht eine gewagte These?

Alle diese Herausforderungen gibt es. Das eigentliche Problem ist aber, dass die Jahrhunderte der Kolonialherrschaft uns Afrikanern die Seele geraubt haben. Wir haben unser Selbstvertrauen verloren, unseren Glauben an das eigene Potenzial, alle Hindernisse zu überwinden. Stattdessen blicken wir zu den Europäern, den Amerikanern und seit einigen Jahren auch zu den Chinesen auf.

Wie reagieren Ihre Studierenden auf den Appell, in Afrika zu bleiben?

Mentalitäten zu verändern, ist ein langwieriger Prozess. Selbst in meiner Familie hören nicht alle auf mich. Ein Neffe von mir hat die Sahara durchquert und versucht nun, von Nordafrika aus nach Europa zu kommen. Er hat mich von Marokko aus kontaktiert und um Geld gebeten. Ich sandte ihm welches mit der Aufforderung, nach Kamerun zurückzufliegen. Er hat es nicht getan. Selbst wenn er es schafft, das Mittelmeer zu überqueren, wird er es in Europa nicht leicht haben. Er ist jetzt 24 Jahre alt, hat aber weder Abitur noch eine Ausbildung.

Wirkt der Rassismus in Deutschland abschreckend auf Afrikaner?

Als ich in Dresden lebte, wurde ein afrikanischer Freund von mir, ein promovierter Biologe, auf der Straße von Rechtsextremen verprügelt. Er ist nach Kamerun zurückgekehrt, obwohl ihn ein Münchner Pharma-Konzern einstellen wollte. Eine Freundin meiner Schwester wurde im ansonsten weltoffenen, sächsischen Freiberg, wo ich ebenfalls gelebt habe, am Bahnhof von Jugendlichen zusammengeschlagen. Um mich selbst habe ich keine Angst, eher schon um meine Frau und unsere Kinder.

Haben Sie Rassismus bei Polizisten erlebt?

Einer meiner Brüder hat in Kanada eine Autowerkstatt, muss Probefahrten machen. Dabei ist er anfangs oft von Polizisten angehalten worden, denen ein Schwarzer in einem schicken Auto verdächtig erschien. Wie sollen Schwarze, die meist weniger als Weiße verdienen, sich solche Wagen leisten können, fragten sie sich wohl. Mittlerweile kennen sie ihn. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, das es auch bei der Polizei gibt und angesprochen werden muss. Es ist schlimm gewesen, dass Innenminister Seehofer das zunächst nicht in einer Studie aufgreifen wollte.

Was sollte die Gesellschaft gegen Rassismus tun?

Die Aufklärung, dass es keine überlegenen und unterlegenen Rassen gibt, muss stärker in der Schule erfolgen. Wir brauchen eine multiethnische Demokratie, wo jeder – in den Grenzen, die das Grundgesetz klar absteckt – leben kann, wie er möchte.

Sie scheinen eine Ausnahme zu sein?

Ich ziehe große Kraft aus dem Glauben. Meine Eltern haben uns Kinder christlich erzogen. Sie haben uns Mut gemacht, unsere Träume zu verwirklichen. In meiner Familie spielen auch traditionelle afrikanische Vorstellungen eine große Rolle. Ich fühle mich von meinen Ahnen beschützt. Meine Lebenseinstellung gebe ich weiter, seit ich mit 14 Jahren das erste Mal in unserer Gemeinde den Kindergottesdienst geleitet habe. Eine solche Ermutigung brauchen auch Deutsche, von denen einige ebenfalls den Glauben an sich selbst verloren haben. (Michael Caspar)

Zur Person: Dr. Chicgoua Noubactep

Dr. Chicgoua Noubactep (52) wurde in Bangoua in Kamerun geboren, nach dem Diplomstudium kam er 1995 über ein Stipendium des Akademischen Austauschdienstes nach Deutschland, promovierte in Freiberg (Sachsen) in Geowissenschaften, arbeitet seit 2011 als Privatdozent an der Uni Göttingen. Fachgebiet ist die Wasserchemie und die Entwicklung von Trinkwasseraufbereitungsanlagen. Chicgoua lebt mit Ehefrau Nelly und vier Kindern in Rittmarshausen. (tko/mic)

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