Gegen Radikalisierung junger Muslime: Göttinger Wissenschaftler sucht nach Strategien
Ein Göttinger Wissenschaftler sucht nach Strategien gegen Radikalisierung junger Muslime. Er fordert deutschsprachige Angebote von den Moscheeverbänden.
Göttingen – Wie kann es gelingen, junge Muslime vor der Radikalisierung zu bewahren? Auch zu dieser Frage forscht der Göttinger Wissenschaftler Lino Klevesath. Mit Präventionsprojekten allein lässt sich die Radikalisierung junger Muslime aber nicht verhindern, warnt der Göttinger Politikwissenschaftler und Arabist.
Klevesath fordert deshalb mehr deutschsprachige Angebote für die Kinder und Enkel muslimischer Zuwanderer von den großen deutschen Moscheeverbänden, insbesondere von der türkischen Ditib, dem mit mehr als 900 Vereinen mitgliederstärksten Verband.
Strategien gegen Radikalisierung junger Muslime: Göttinger Wissenschaftler forscht zum Islam

Der Hintergrund: Salafisten, von denen es in Göttingen rund 50 Personen gibt, werben aktiv um deutschsprachige Muslime. Wer sich im Netz über den Islam informieren will, landet – mangels Alternativen – schnell auf ihren Seiten und Channels.
Salafistische Prediger ziehen zudem mit ihrem saloppen, unkonventionellen und rebellischen Stil junge Menschen in ihren Bann, berichtet der 40-jährige Mitarbeiter des Instituts für Demokratieforschung der Uni Göttingen.
Klevesath, der seit Jahren über den radikalen Islam forscht, hat gerade mit Mitarbeitenden eine Studie über den Deutschsprachigen Islamkreis Hildesheim veröffentlicht. Der dortige „Prediger ohne Gesicht“, der sich bei Internetauftritten immer nur noch hinten filmen ließ, hat zwei Dutzend junger Menschen für den Islamischen Staat rekrutiert. 2021 ist er deswegen zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt worden.
Moscheeverbände in Deutschland sind umstritten
Dem Wissenschaftler ist bewusst, dass die großen Moscheeverbände selbst umstritten sind. „Das Verhältnis des orthodoxen sunnitischen Islam zur Demokratie und zu den Menschenrechten ist im Kern noch ungeklärt“, sagt Klevesath. Nach traditionellem islamischen Verständnis macht nicht der Mensch die Gesetze, sondern Gott.

Das Gottesrecht, die Scharia, widerspricht jedoch in vielen Punkten den Grundrechten. So soll Diebstahl mit der Amputation der Hand bestraft werden. Der Koran rechtfertigt Gewalt in der Ehe, benachteiligt Frauen im Erbrecht und räumt ihren Zeugenaussagen vor Gericht weniger Gewicht ein als denen der Männer.
„In der islamischen Welt wird darüber kontrovers diskutiert“, betont Klevesath. Einzelne Intellektuelle erklärten Aussagen im Koran oder in den überlieferten Handlungen des Propheten Mohammeds für nicht mehr zeitgemäß.
Andere suchten nach neuen Auslegungen alter Texte. In Deutschland mache das etwa der kleine Liberal-Islamische Bund. Der orthodoxe Mainstream, wie er von den großen Moscheeverbänden vertreten werde, lehne solche Ansätze jedoch weitgehend ab.
Moscheen mehr in den Blick nehmen
Klevesath mahnt, dass Moscheen genauer in den Blick genommen werden müssten. Das Hildesheimer Gotteshaus habe bis zuletzt Tage der offenen Tür angeboten und in der Stadt das interreligiöse Gespräch gesucht – ohne an der eigenen salafistischen Ausrichtung einen Zweifel zu lassen. Offene Bekenntnisse zum Islamischen Staat seien jedoch nur bei internen Seminaren gefallen. Die handverlesenen Teilnehmenden hätten zuvor ihre Handys abgeben müssen.
„Bei unseren Interviews zeigte sich, dass auch einige salafistische Mitglieder den militanten Kurs des Vorbeters ablehnten“, betont Klevesath. Längst nicht jeder Strenggläubige sei, bei aller Distanz zum säkularen System, ein Gewalttäter. (Michael Caspar)
Der frühere Vorsitzende der Ditib-Moschee in Göttingen hat einen Strafbefehl erhalten. In Göttingen ist die Ditib-Gemeinde bei der Integrationsratswahl Ende 2021 abgestürzt.