In Göttingen steht jetzt das größte Max-Planck-Institut Deutschlands

Patrick Cramer, Direktor des Max-Planck-Instituts für multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen, im Interview.
Göttingen – 2023 steht ein stolzes Jubiläum für die Max-Planck-Gesellschaft an: Sie wurde 1948 gegründet. Damals schaute die noch kriegsgebeutelte Forschergilde gespannt nach Göttingen, wo sich die Gründung vollzog und sich fortan die Max-Planck-Institute kräftig entwickeln sollten.
70 Jahre später waren es fünf an der Zahl, mehr gibt es in keiner deutschen Stadt. 2022 sind es vier, weil zwei fusionierten: MPI für biophysikalische Chemie und MPI für experimentelle Medizin. Daraus wurde mit dem MPI für multidisziplinäre Naturwissenschaften das größte aller 85 Institute, das Freitag eingeweiht wird. Deshalb schaut man in der Max-Planck-Gesellschaft erneut gespannt nach Göttingen, wie Patrick Cramer weiß.

Herr Cramer, sie sind geschäftsführender Direktor des neuen Mega-MPI, zudem Direktor eines Forschungsbereichs. Ist die Geschäftsleitung eine Last oder freudvolle Aufgabe?
Es ist etwas Besonderes. Es ist Arbeit aber keine Belastung, und es macht Spaß, dieses neue Institut zu leiten. Es folgt ja ein turnusmäßiger Wechsel, wir haben ein Rotationssystem. Grundsätzlich entscheidet stets das ganze Kollegium. Ich als geschäftsführender Direktor muss die Beschlüsse umsetzen, gemeinsam mit dem tollen Team, zu dem meine Vertreter Marina Rodnina und Nils Brose gehören.
Eigentlich ist ja ein neues Gebilde entstanden.
Ja. Die Fusion war faktisch eine Neugründung. Die alten Institute für biophysikalische Chemie und Experimentelle Medizin mussten geschlossen werden. Alle mussten in das neue Institut umberufen werden und einiges musste umstrukturiert werden: Aus zwei Verwaltungen wurde eine Verwaltung, aus zwei Werkstätten eine Werkstatt. Es ging auch um Personen und Aufgaben, mit der Frage: Wer macht in Zukunft was? Aber wir hatten einen zeitlichen Vorlauf und haben all das geregelt, einvernehmlich in vielen guten Gesprächen.
Heißt das, es gibt nur noch eine Werkstatt? Die beiden Standorte liegen vier Kilometer auseinander..
Die Werkstätten sind organisatorisch zusammengelegt, aber es gibt an beiden Standorten – also Fassberg und Robert-Koch-Straße, City-Campus genannt – je einen Teil der Werkstatt, das macht es einfacher, logistisch wie auch beim Umsetzen von Arbeiten in Absprache mit den Forschern vor Ort.
Wie ist es beim Einsatz der Technik? Kommt die an zwei Standorten gleichzeitig zum Einsatz?
Einrichtungen mit teuren Großgeräten gibt es jeweils nur einmal. Allerdings gibt es Einrichtungen, die an beiden Standorten benötigt werden, wie die Lichtmikroskopie: Die gibt es an beiden Standorten, weil wir kurze Wege zu den Forschern brauchen. Aber wir koordinieren das. Überschneidungen lassen sich dennoch nicht immer ganz vermeiden, aber grundsätzlich funktioniert die Arbeitsteilung sehr gut.
Hatte die Fusion negative Folgen – wie für Budget und Mitarbeiter?
Nein. Mit der Fusion gehen keine Kürzungen des Budgets einher. Mehr noch: Entstehende Vorteile und Synergien kommen uns zugute. Sparen wir Geld durch effektivere Organisation und Arbeitsverteilung, dann bleibt es im Institut. Da geht kein Euro verloren. Das war letztlich auch die Grundvoraussetzung für die Fusion. Es gab vonseiten des Instituts auch keine Kündigungen.
Welche Wirkung hat die Fusion nach Außen?
Wir haben jetzt eine noch größere Sichtbarkeit nach Außen. So sind etwa unsere Kollegen vom City-Campus weltberühmte Neuro-Biologen, die jetzt Teil eines größeren Ganzen sind. Die Leute schauen also nach Göttingen. Sie schauen auch darauf, wie wir das hier am MPI für multidisziplinäre Naturwissenschaften organisieren, und welche Vorteile wir daraus entwickeln. Es ist das größte MPI. Mit dieser großen Sichtbarkeit geht eine große Verantwortung einher.
Was meinen Sie konkret?
Wir müssen verstehen, dass wir Vorbildfunktion haben, in der Max-Planck-Gesellschaft und außerhalb. Wir sind Vorbild auch darin, wie wir mit unseren Doktoranden umgehen, wie wir unsere Postdocs im Arbeitsmarkt positionieren. Wir können auch Vorbild sein für andere Standorte, wo es ähnliche strukturelle Überlegungen gibt. So in München. Dort werden zwei MPIs fusioniert. Allgemein bleibt die Frage: Gibt es eine ideale Größe für ein Max-Planck-Institut und wie ist diese vom Forschungsfeld abhängig? Auch da werden unsere Erfahrungen helfen. Und deshalb schaut man sehr genau nach Göttingen.
Göttingen ist und war also für die MPG immer etwas Besonderes?
Göttingen hatte immer wieder Vorbildfunktion. Auch als Reinhard Jahn die IMPRS-Schulen gemacht hat, unsere Max-Planck-Doktorandenschulen. Das ging in großem Umfang hier in Göttingen los, und unser Göttinger System ist später an vielen MPG-Standorten implementiert worden. Es legt auch fest, wie wir mit den Universitäten zusammenarbeiten.
Da hakelte es mancherorts…
Richtig, aber diese Zeiten sind vorbei. Hier in Göttingen gibt es am Göttingen-Campus gute Kooperationen. Unsere Partner wie Uni und Uni-Medizin sind sehr offen, haben Interesse an Campuslösungen, auch Uni-Präsident Metin Tolan. Wir versuchen, gemeinsam, die besten Leute nach Göttingen zu holen oder hier zu halten, ihnen Perspektiven und Top-Arbeitsmöglichkeiten zu bieten.
Hilft dabei das neue MPI?
Wir können leichter Top-Leute für Göttingen gewinnen und dadurch schnell neue Forschungsfelder aufbauen und in diesen weltweit vorne mit dabei sein. Stichwort RNA und neue RNA-Medikamente: Unsere nächste Berufung wird in diesem Zukunftsfeld sein, es gibt schon eine Kandidatin. Und die darauf folgende Berufung soll in der Biomedizin sein, wobei wir uns aber überhaupt nicht auf ein bestimmtes Feld festlegen. Wir schauen stattdessen in der Welt, wo wir aufgehende Forscher-Sterne finden, die einen spannenden Ansatz verfolgen. Die Chancen, sie auf einem kompetitiven Markt zu bekommen sind mit dem neuen, großen Institut sicher gestiegen. Das ist ein wichtiger Grund für die Fusion, die Stefan Hell, der Initiator, stets betont hat.
Stehen sie mit dem weltweit operierenden Biotech-Konzern Sartorius in Verbindung, der auch Top-Forscher als Kunden hat?
Wir tauschen uns informell aus. Der Konzern ist bestens vernetzt und in der Praxis unterwegs. Sie bekommen früh mit, was in der Welt im Bereich Pharma und Biotech passiert. So ist es auch in der Wissenschaft: Wir segeln über ein unbekanntes Meer und kennen den Hafen nicht. Wir müssen daher immer schauen, was am Horizont auftaucht und ob neues Land ist, wo wir anlegen können. Ich habe mehrfach mit Dr. Joachim Kreuzburg über die Standortentwicklung gesprochen und darüber, welche Dinge interessant sind, die wir uns für die Zukunft vorstellen könnten.
Sartorius hat die Life-Science-Factory für junge Wissenschaftler mit Ideen und Start-Ups geschaffen. Hilft auch das?
Auf jeden Fall. Diese Einrichtung für junge Wissenschaftler und Unternehmer hilft dabei, Ideen schneller in die Anwendung in der Praxis zu bringen, indem Sie Hürden abbaut. Viele Ausgründungen kommen ja auch aus den MPIs, aber oft siedeln sie sich dann an anderen Standorten an. Die Life-Science-Factory kann dabei helfen, sie hier zu halten. Diese Investitionen sind für Forschung und Stadt, ohne dass sie direkt gegenrechenbar sind, sehr lohnenswert. Wichtig ist es, diese Visionen zu haben und auch etwas zu probieren, zu wagen – wie die Life-Science-Factory. Sartorius und Herr Kreuzburg sind da ein enormer Faktor für Südniedersachsen.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Patrick Cramer (53) geb. in Stuttgart, studierte Chemie in Stuttgart, Heidelberg und Bristol. Für seine Diplomarbeit forschte er in Cambridge. 1998 promovierte er in Grenoble und an der Uni-Heidelberg. Als Postdoc arbeite an der Stanford-University im Labor des späteren Nobelpreisträgers Roger D. Kornberg.
An der Uni München leitete er von 2004 bis 2013 das Gen-Zentrum. Seit 2014 ist er Direktor am MPI für Biophysikalische Chemie, leitet die Abteilung Molekularbiologie. Er erhielt viele Auszeichnungen wie Leibniz-Preis, und Louis-Jeantet-Preis für Medizin (2021). Cramer lebt mit seiner Frau in Göttingen, hat zwei erwachsene Kinder. Hobbys sind auch Radfahren und Reisen. (tko)
(Thomas Kopietz)