Interview mit Heinrich Detering: Für jede Lebenssituation ein Dylan-Song

Bob Dylan wird am Pfingstmontag 80 Jahre alt. Der Göttinger Heinrich Detering schreibt Bücher über Dylan, übersetzt Texte und ist Fan. Wir sprachen mit ihm im Interview.
Göttingen - Bob Dylan wird 80 – und ist vitaler als viele erwartet hätten, er steht fest im Leben, macht hervorragende Platten. Das sagt der exzellente Dylan-Kenner, -Fan, -Übersetzer, -Buchautor und Göttinger Literaturwissenschaftler Prof. Heinrich Detering.
Herr Detering, wie geht Bob Dylan mit dem Alter um?
Er hat schon als Junger versucht, wie ein 80-jähriger Blues-Musiker zu klingen, das war komisch. Als Milchgesicht auf seinem ersten Album singt Dylan: See that my Grave ist kept clean – Kümmert Euch um mein Grab. Wenig später schreibt er den Gedichtszyklus „Elf Entwürfe für meinen Grabstein“. Er agiert mit 20 wie ein Uralter. Jetzt mit 80 ist er so vital, so jung, heiter und beschwingt – das ist ein erstaunliches Schauspiel.
Was macht Dylan für sie so einmalig?
Das Eigenartige ist: Es wird immer gesagt, dass Dylan der Verwandlungskünstler und ein immer wieder Anderer ist. Das stimmt natürlich. Aber gerade darum ist es so eindrucksvoll zu sehen, wie er doch in einer geheimnisvollen Weise stets derselbe ist. Man hat das Gefühl, es immer mit einer einzigen Person zu tun zu haben, die unglaublich facettenreich ist. Das hat vor allem mit dieser Stimme zu tun.
Woran machen Sie das fest?
In einem Gedicht des jungen Dylan heißt es: „Wenn Du deinen wahren Namen sagen sollst, gib ihn niemals preis. So oft Dylan seine Rollen gewechselt hat – in dem Vers steckt die Überzeugung, dass es so etwas wie eine innere Person gibt, die man nicht aussprechen kann. Bei Dylan wird das hörbar in dieser Stimme, die in so vielen Varianten hörbar geworden und doch immer ganz seine eigene ist. Ein Kritiker des „Rolling Stone“ hat mal geschrieben: Die größte Gabe des lieben Gottes an Bob Dylan ist seine Stimme. Das ist wahr. Wie er intonieren und phrasieren, seine Verwundbarkeit zeigen, höhnen, zart und aggressiv sein kann - in dieser gebrochenen, nie reinen, aber immer eindringlichen Art zu singen. Da ist vielleicht dieser Kern, den man nicht aussprechen, sondern nur spüren kann.

Welche Alben zeigen diese Gegensätze besonders?
Wenn man „Blood on the Tracks“ hört – eines seiner schönsten Alben – und daneben von 2012 „Tempest“, sein vielleicht aggressivstes, düsterstes Album, zwei Meisterwerke auf ihre Art: dann ist hier die Stimme zerrissen, kaputt, rau und roh. Auf „Blood on the Tracks“ hingegen ist sie traurig, innig, zurückgenommen, zart und schmerzvoll. Und dann wieder gibt es dieser Songs voller Lebensfreude aus der Country-Zeit, wo er sich gegen Johnny Cashs Bariton im Tenor behauptet. Auf engstem Raum vereint sind die unterschiedliche Tonfälle in den religiösen Songs. Er hat selten so intensiv gesungen wie in seiner religiösen Phase um 1980, als einige seiner leidenschaftlichsten Songs entstanden. Da war er ganz mit dem Herzen bei der Sache, da wollte er überzeugen.
Die Songs scheinen für Dylans Lebens-Phasen und -Zustände zu stehen.
Ja absolut. Und deshalb gibt es für mich – wie für viele Dylan-Hörer – wenige Situationen und Zustände im Leben, für die es nicht einen Dylan-Song gebe. Das hat einen therapeutischen Wert.
Viele können Bob Dylan nicht fassen, wie ist dieser Bob Dylan wirklich?
Keine Ahnung! Er benutzt verschiedene Namen und Verkleidungen, er wechselt die Spielregeln. Aber sein Umgang mit Werten wie „Wahrheit“, „Würde“, „Ehre“ unterscheidet sich doch grundlegend von postmodernen Spielen. Er würde vielleicht sagen: Ich bin nicht bloß die Summe aller Verkleidungen. Ich verkleide mich nur, um mein Ich zu schützen. Und um nicht mit meinem augenblicklichen Aussehen verwechselt zu werden.
Welcher Song zeigt bestens die Vielfältigkeit Dylans als Musiker?
Bei „Like a Rolling Stone“: kann man sich fragen: An wen ist der Song eigentlich gerichtet? An eine Freundin, die grausam gedemütigt wird? An den Sänger selbst, diesen Mann, der erkennen muss, dass er am Ende ist? Und dann: In welcher Haltung ist das gesagt? Ist es so höhnisch, wie der Refrain behauptet, oder ein heulender Klagegesang, wie die Stimme sagt, oder voller mitfühlender Verzweiflung und Trauer? Und dann hat der Song eine Rock-n-Roll-Vitalität, die stärker ist als der Schmerz.
Ist er noch der Revoluzzer aus den 60ern und Songs wie „Blowin in the Wind“?
Dylan fühlte sich in seinen frühen Jahren von zu vielen Seiten bedrängt, politisch vereinnahmt. Das war ein Trauma, an dem er sich im vierten Album und in Gedichten abgearbeitet hat. Er wollte raus aus dieser Rolle. Später drängten ihn Freunde, sich im Wahlkampf für Obama auszusprechen, den er als Schriftsteller – wie er oft betont hat – bewunderte. Dylan tat es nicht, er sagte auch nichts Explizites gegen den Faschisten Trump, wie es seine Freunde Bruce Springsteen und Neil Young taten. Er verweigerte auch hier die Message-Songs. Aber wer seine Lieder dieser Jahre hört, merkt, wie Dylan statt der Parolen poetische Analysen entwickelt, die sein zerrissenes Land hörbar machen, die unsicheren Hoffnungen der Obama-Jahre ebenso wie die faschistische Gewaltbereitschaft der Trump-Bewegung. Generell gilt: Die Botschaften bei Dylan sind eine heikle Sache.
Die Konzerte sind für Nicht-Fans mitunter enttäuschend. Hat sich das über die Jahre verändert?
Ja. Wenn man Dylan in den 80ern zu Beginn seiner Never-Ending-Tour hörte, da konnte er an einem Abend abheben, schweben vor Inspiration. Und am nächsten Abend war das Konzert grottenschlecht. Dann hatte er keine Lust, war betrunken, nuschelte und vergaß, wo das Mikrofon stand. In den vergangenen 20 Jahren ist das sehr professionell geworden, das Programm ist stabil, Dylan gibt sich Mühe, er singt konzentriert. Die Qualität ist aber oft abhängig vom Ort: Konzerte in großen Arenen schalten gern den Autopiloten ein. Großartig habe ich ihn auf dem Marktplatz in Lörrach erlebt oder auf einem Industriegelände in Gelsenkirchen, als Lastkähne hinter der Bühne vorbeifuhren. In solchen Szenerien taut Dylan auf. Das atmet er ein. Die Dylan-Songs sind immer dreidimensional: Da ist das, was im Text steht, da ist die Musik und es ist die Art wie er performt. Wenn man Dylan im Konzert erlebt, dann kann man einen Song als 20 verschiedene Songs erleben.
Was macht den späten Dylan musikalisch aus?
„Rough and Rowdy Ways“ von 2020 ist musikalisch, textlich und stimmlich so konzentriert, einfallsreich, lebendig wie lange nicht mehr. Es ist ein Meisteralbum, das er im 80. Lebensjahr gemacht hat und auf dem er weiß, was er kann – und auf dem er uns nochmal zeigt, was er in 80 Jahren gelernt, gefunden und erfunden hat. Es hat auf eine lebensfreundliche Weise etwas von einer Abschiedsgeste. (Thomas Kopietz)
Standardwerk „Bob Dylan
Standardwerk: „Bob Dylan“, Heinrich Detering, Reclam, 216.S, 16,95 Euro. Neu: „Bob Dylan - Gespräche aus sechzig Jahren, Hg. Heinrich Detering, Kampa, 352 S., 24 Euro. (tko)
Zur Person
Heinrich Detering (61), geboren in Neumünster, hat Germanistik, Theologie, Skandinavistik und Philosophie in Göttingen, Heidelberg und Odense studiert. Es folgten viele „Auslandseinsätze“ als Gastprofessor, einige davon in den USA. Detering ist Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Direktor des Zentrums für komparatistische Studien an der Uni Göttingen, Mitglied von Akademien sowie Mitherausgeber der neuen Thomas-Mann-Ausgabe. 2003 erhielt er den „Preis der Kritik“ für seine literaturkritischen Essays. Deterings Liebe gehört auch der Musik, der Dylan-Fan hat auch Bücher über den Sänger und dessen Texte geschrieben. Detering lebt in Göttingen, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er engagiert sich auch für das Günter-Grass-Archiv in Göttingen.