Ostermarsch am Samstag: „Der stärkste Akteur im Krieg ist der Krieg“

Sie finden jedes Jahr am Osterwochenende statt: Die Ostermärsche der Friedensbewegung. So auch in Göttingen. Auch dieses Jahr ist der Ukrainekrieg zentrales Thema der Demonstration.
Am Samstag ist es wieder soweit: Um 12 Uhr beginnt der Ostermarsch des Göttinger Friedensforums. Hauptforderung ist dieses Jahr das Ende des Ukrainekriegs. Was sie kritisieren und wie sie den Krieg bewerten, erzählen Gunnar Siebecke und Willi Parlmeyer im Interview.
Herr Siebecke, Herr Parlmeyer, das Göttinger Friedensforum organisiert auch dieses Jahr einen Ostermarsch. Was ist ihr Anliegen?
Unser dringendstes Anliegen ist eine Waffenruhe, die den Krieg unterbricht, um Friedensverhandlungen zu ermöglichen, die ihn beenden. Das Kriegsglück des Einen wie das Kriegspech des Anderen beschert beiden Seiten dasselbe, nämlich geschätzte 1000 Tote täglich, Verwundete und Traumatisierte ohne Zahl sowie Verwüstungen proportional zur Effizienz der von Menschen entwickelten Zerstörungskraft. Wir gehören nicht zu den Zynikern, die dies als erforderlichen Einsatz ansehen, um in eine günstige Verhandlungsposition zu gelangen.
Sie kritisieren eine fehlende Zielsetzung bei den Waffenlieferungen, obwohl die Rückeroberung der besetzten Gebiete immer wieder formuliert. Warum?
Wir kritisieren die Waffenlieferungen. Zielsetzungen gibt es verschiedene. Kiew formuliert welche, Washington andere, Berlin auch. Wir halten es aber für verräterisch, dass die Art der Waffenlieferungen nicht qualitativ entsprechend den Kriegszielen bestimmt werden, sondern quantitativ, nämlich immer mehr. Das zeigt – uns jedenfalls – dass der Krieg zum Selbstläufer geworden ist oder zu werden droht, wenn immer mehr einflussreiche Menschen und Unternehmen immer besser daran verdienen. Dazu zählt auch das bereits anlaufende Wiederaufbaugeschäft, das umso bessere Rendite abwirft, je größer die Zerstörungen sind.
Sie fordern sofortige Friedensverhandlungen. Diese würden aber nur dann stattfinden, wenn die Ukraine Gebietsverluste in Kauf nimmt.
Das Junktim ist unrichtig und die Frage verrät schon, wieweit es gekommen ist, denn in ihrer Logik darf es erst dann zu Friedensverhandlungen kommen, wenn Gebietsverluste ausgeschlossen sind. Es fehlt auch die erforderliche differenzierte Betrachtung. Bisher hat die Ukraine keine Gebietsverluste erlitten, denn die russischen Annexionen sind völkerrechtlich nichtig. Wohl hat die Ukraine Geländeverluste im Krieg. Effektive Gebietsverluste wären erst Ergebnis von Friedensverhandlungen, wenn man sie dort in Kauf nimmt.
Nun gibt es auch viele Befürworter von Waffenlieferungen, die sich damit einen nicht von Russland diktierten Frieden erhoffen. Was entgegen sie dem?
Es gibt auch viele Befürworter von Waffenlieferungen, die sich damit einen Russland diktierten Frieden erhoffen. Allen ist gemeinsam, dass sie den Krieg für führbar halten, für kontrollierbar oder ihn so darstellen. Das ist er nicht. Der stärkste Akteur im Krieg ist der Krieg. Der Krieg bedeutet für alle Seiten einen Kontrollverlust, die Auslieferung an das Kriegsglück. Darum ist eine Waffenruhe so wichtig, weil damit die Kontrolle über das eigene Geschick zurückgewonnen wird.
Gerade in den osteuropäischen Nato-Ländern ist die Angst vor Russland groß. Diese unterstützen Waffenlieferungen. Können Sie das nachvollziehen?
Wir kennen die Geschichte der Gebiete, die heute von Polen, Ukrainern, den baltischen Völkern und Russen bewohnt werden. Der gerade viel zitierte Autor Timothy Snyder bezeichnet sie als die Bloodlands. Wer diese Geschichte auf den Gegensatz aller gegenüber Russland reduzieren will, dem fehlt jeder Sinn für Ambiguität, der erforderlich ist, um mit dieser Geschichte fertig zu werden. Wer in so eine Region Waffen liefert, ist gewissenlos. Sie werden lernen müssen, miteinander zu leben, wie Deutsche und Franzosen das mussten und konnten.
Wie könnte konkret eine Lösung des Ukrainekriegs aussehen?
Wir beteiligen uns nicht an den Spekulationen über Territorien und Grenzverläufe. Die Friedensbewegung ist in zweiter Linie damit befasst, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Erst damit gewinnen die Völker die Kontrolle über ihr Geschick zurück und die Möglichkeit, ihre gemeinsame Zukunft zu gestalten. In erster Linie aber ist die Friedensbewegung damit befasst, kollektive Friedens- und Sicherheitsordnungen herbeizuführen, die Gefühle von Bedrohung nicht aufkommen lassen beziehungsweise den Menschen erlauben, sich den tatsächlichen Bedrohungen zu stellen, die Folgen ihres Tuns sind und diese abzuwenden. Wir reden von den bald irreparablen Schäden an dem Planeten, den wir uns teilen und den dieser Krieg durchaus über die Klippe treten kann. (Amir Selim)

Zur Person
Gunnar Siebeke (70) kommt ursprünglich aus Hannover. Seit 1984 lebt er in Göttingen. Dort war er Geschäftsführer des Vereins Selbsthilfe Körperbehinderter Göttingen.
Willi Parlmeyer (70) ist gebürtiger Osnabrücker. Als Ökonom war er in der Entwicklungshilfe tätig.