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Stuckrad-Barre liest in Göttingen aus „Noch wach?“: „Alles Fiktion – alles erfunden!“

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Von: Thomas Kopietz

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 Benjamin von Stuckrad-Barre im Dialog mit dem Publikum in der Sheddachhalle in Göttingen.
Glücklich: Benjamin von Stuckrad-Barre im Dialog mit dem Publikum in der Sheddachhalle. Er las aus „Noch wach?“ und sprach über seine Göttinger Zeit. © Thomas Kopietz

Autor Benjamin von Stuckrad-Barre stellt bei der Göttinger „Frühjahrslese“ seinen neuen Roman „Noch wach?“ vor.

Göttingen – Einst wuselte er, kaum still sitzend, über die Bühne, rauchte, schimpfte, driftete gedanklich weit ab. Wer Benjamin von Stuckrad-Barre so kennt, der erlebte am Sonntagabend, 30. April, bei der Göttinger „Frühjahrslese“ in der mit 630 Besuchern ausverkauften Sartorius-Sheddachhalle einen anderen „Stucki“: nachdenklich, einfühlsam und sentimental – besonders, wenn es um sein geliebtes Göttingen geht.

Aber: Stuckrad-Barre war auch wie immer: bissig, ironisch, gedankenverloren, sprachanalytisch, brillant beobachtend und glasklar, wenn es drauf ankommt – aber auch nichtrauchend. So stellte er sein viel beachtetes Buch „Noch wach?“ vor.

Stuckrad-Barre bei Göttinger „Frühjahrslese“: Auftritt in Baseballjacke und Streifen-Pulli

Der Auftakt ist fulminant und laut. Zu Falcos „Out Of The Dark“ stürmt er in Baseballjacke und gestreiftem Pulli darunter auf die Bühne, pusht das Publikum mit Armbewegungen wie ein Fußballer vor dem Fan-Block nach einem Tor. Und Fans sind viele da – auch „seine“ Göttinger. Schließlich hat er hier am Max-Planck-Gymnasium „in rätselhafter Weise das Abitur bestanden“.

Ein gewisser, 2014 zu früh verstorbener Christoph Reisner („Der Erfinder des Göttinger Literaturherbstes“) hat ihn in GÖ auf den Weg zum Lesenden und zum Autor geschubst. „Ohne ihn gäbe es mich nicht mehr“, wird Stuckrad-Barre am Ende des Abends sagen.

Zunächst erzählt der Autor über sein Comeback-Erlebnis in Göttingen, ein Eis am Gänseliesel („Das war schön!“), fragt nach Kult-Läden wie der Disco Tangente und dem Deuerlich-Buchladen. Antwort aus dem Publikum: „Gibt´s nicht mehr!“ Bilanz „Stucki“: „Göttingen ist am Arsch!“

Alles ausgedacht, alles Fiction, alles erfunden, Science-Fiction!

Benjamin von Stuckrad-Barre, Autor

Dann geht es hinein in das Buch, das zurzeit Top- Diskussionsthema in der Kulturlandschaft ist. „Noch wach?“ ist eine Anlehnung an den Skandal um Ex-Bild-Chef und vermeintlichen Frauenbelästiger Julian Reichelt und die einstige Freundschaft zu Springer-Boss Mathias Döpfner.

Reagierte Benjamin von Stuckrad-Barre bei der Buchvorstellung noch gereizt auf die wiederholten Fragen nach dem Wahrheitsgehalt („Das macht mich jetzt wütend!“), lässt er in Göttingen die Wut in der Tasche, liest drei Passagen, die für sich sprechen. Und betont mehrfach während der mehr als zwei Stunden, sicher auch auf Tipp der Anwälte: „Alles ausgedacht, alles Fiction, alles erfunden, Science-Fiction!“

Zur Story: Eine Frau schildert dem Ich-Erzähler von ihrem Chef im Fernsehsender, von dessen Fürsorge, davon, dass er an sie glaube. Dass all das viel zu weit geht, dass Machtmänner die Abhängigkeit junger Frauen systematisch ausnutzen – darum geht es. Das will Stuckrad-Barre sagen.

Neuer Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“ thematisiert Macht-Missbrauch

„Dieses Buch musste geschrieben werden“, konstatiert er und erntet viel Beifall aus dem Publikum. Dass andere Rezensenten den Roman als „Männerbuch“ bezeichneten, ist unzutreffend. Es ist ein Buch für Frauen und für Männer.

Zweiter Handlungsstrang ist Los Angeles, Hollywood und die Geschehnisse um den Weinstein-Skandal. Es geht um die positiven Folgen wie #Me-Too-Bewegung, aber auch um die Zähigkeit, mit der sich diese Abhängigkeitsverhältnisse fortsetzen, noch immer. Auch in Deutschland.

Die Lesung, das Erzählen, das Abschweifen, die beißende Ironie, die schonungslose Ich-Offenheit machen den Abend zum Erlebnis. Dem top-fitten Stuckrad-Barre gelingt die schwierige Mixtur zwischen Witzelei, akzentuierter Lesung und Ernsthaftigkeit. Am Ende liest „Stucki“ aus „Panikherz“ eine Stelle für Christoph Reisner und ist danach gerührt.

Auch, weil er gefeiert wird. Er wertet das als Unterstützung, die er benötigt. Denn sein – wichtiges – Buch aktiviert die mächtigen Gegner, die sich längst in Stellung gebracht haben. „Wow, das ist echt schön. Danke. Göttingen ist was ganz Besonderes“, sagt er leise zum Schluss, und das ist der komplette Gegensatz zum lauten, rockigen Beginn. (Thomas Kopietz)

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