Tondichtung „Flucht“ feierte im Grenzdurchgangslager ihre Uraufführung in Friedland

Der große Dornenkranz steht für das Leid, eine kleine Krone darüber für die christliche Hoffnung, dass sich alles zum Guten wendet: Ulli Göttes hat seine Sinfonie „Flucht“ im Grenzdurchgangslager Friedland erstmals aufgeführt.
Friedland – Melodien fremder Länder, dramatisch anschwellende Musik, eindringlicher Sprechgesang: Ulli Göttes hat seine Sinfonie „Flucht“ im Grenzdurchgangslager Friedland erstmals aufgeführt.
Riesengroß ist der Dornenkranz, der über dem Altar der katholischen Kirche St. Norbert im Grenzdurchgangslager Friedland schwebt. Er steht für das Leid, das Menschen anderen antun. Eine kleinere Krone darüber drückt die christliche Hoffnung aus, dass sich alles zum Guten wendet.
Um Leid und Hoffnung dreht sich Göttes Werk, das das Kasseler Youth World Music Orchestra vor 120 Zuhörenden, ein Drittel davon Geflüchtete, interpretierte. Der Tondichter dirigierte die 15- bis 25-jährigen Musiker selbst.
Flucht der Mutter inspirierte Götte
Die Flucht der Mutter 1945 aus Schlesien hatte Götte zur Komposition inspiriert. Die junge Frau lernte damals unterwegs ihren späteren Ehemann kennen, der kurz darauf in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet.
1950 kehrte er über das Lager in Friedland zurück nach Deutschland. Fünf Biografien von Menschen, die zwischen 1948 und 2016 die gleiche Station passiert hatten, suchte Götte mit Unterstützung des Museums Friedland in dessen Zeitzeugenarchiv heraus.
Markante Textpassagen, die das Museum unter ihrer wissenschaftlichen Leiterin, Dr. Anna Haupt, auswählte, trug Werner Zülch während des Konzerts, musikalisch dezent begleitet, vor.
Geschichten von Menschen auf der Flucht
Da war die Geschichte des ostpreußischen Mädchens, das 1945 auf der Flucht fürchterlich fror. Dann sorgte die Mutter dafür, dass es die Kleidung eines Jungen bekam, der in der Nacht zuvor in diesen Sachen gestorben war.
Ein Ungar lachte, als ein Freund zu Beginn der russischen Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 von Flucht sprach. So absurd erschien ihm das.
Polizisten beschimpften eine Chilenin, die 1974 nach dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten ausgeflogen wurde. Ein Vietnamese floh nach Lagerhaft und Folter 1980 über das offene Meer.
Gefährlicher Weg von Syrien nach Europa
Ein Syrer entschied sich 2014 für den lebensgefährlichen Weg nach Europa, weil seine Angst, im Land zu sterben, noch größer war. Zu jedem der Fluchtländer wählte Götte, Mitgründer des Kasseler Zentrums für interkulturelle Musik, eine passende Melodie aus. Das Orchester spielte sie an.
Dann war sie in sinfonischer Bearbeitung zu hören. Bewegende Sätze Flüchtender sangen Sopranistin Chie Nogai und Altistin Yilan Li. Die Botschaft: Es flieht niemand freiwillig, lässt ohne Grund Hab und Gut zurück, tauscht die Heimat gegen Ungewissheit und eine fremde Sprache ein.
„Mensch, du musst weitergehen!“
Göttes Tondichtung transportierte die Angst und Verzweiflung. Allen Lebensmut hatte etwa der Vietnamese verloren, als er in Friedland eintraf. Die Sinfonie macht aber auch Mut, den Neuanfang zu wagen.
Der Vietnamese sagte zu sich: „Mensch, du musst weitergehen!“ Zum Abschluss spielte das Orchester aus aktuellem Anlass das ukrainische Volkslied Shchedryk in einem Arragement von Mykola Leontovych. (Michael Caspar)