Wohnung in Hann. Münden lag 40 Jahre im Dornröschenschlaf

Wer die kleine, voll eingerichtete Wohnung im Obergeschoss des Grotefend-Hauses in der Mündener Altstadt, Ziegelstraße 39, betritt, findet sich in einer längst vergangenen Welt wieder.
Hann. Münden – Es ist das Jahr 1983. Als Wilhelm Frank die Wohnungstür im Obergeschoss des Grotefend-Hauses hinter sich zuzieht, ahnt er wohl nicht, dass er an diesen Ort seiner Kindheit und Jugend nicht mehr zurückkehren wird.
Die Beerdigung seiner Mutter, die am 4. Mai in einem Altersheim in Hermannshagen gestorben ist, ist vorbei, die letzten Angelegenheiten geregelt. Der 41-Jährige kann beruhigt wieder zurück nach Kanada fahren, wo er seit 1959 lebt und sich eine Existenz als Friseur aufgebaut hat. Das Haus an der Ziegelstraße gehört ihm seit Jahren, und wenn er auf Deutschlandbesuch ist, wohnt er in der elterlichen Wohnung. Der Vater ist bereits 1974 gestorben.

Bevor er geht, räumt er die Wohnung auf, macht die Betten und richtet die Kissen auf der Wohnzimmercouch. Ansonsten lässt er alles wie immer. Auf einer Kommode stehen ordentlich die Familienfotos neben einem grauen Post-Telefon, das in den 60er-Jahren modern war, und der Wohnzimmerschrank ist noch voller Gläser und Geschirr, das man jederzeit für eine Kaffeetafel hervorholen kann. Auch die Schallplatten der Familie liegen bis heute an ihrem angestammten Ort sowie sämtliche Dokumente wie Geburts- und Sterbeurkunden.
Seit 2022 gehört das Haus der Bürgergenossenschaft Mündener Altstadt. Im vergangenen Jahr hatte sie es von Wilhelm Franks Witwe gekauft. Jahrelang hatte sich die Genossenschaft darum bemüht, weil es das Geburtshaus eines berühmten Sohnes der Stadt ist: Georg Friedrich Grotefend (1775-1853). Der Sprachwissenschaftler und Altertumsforscher hatte die altpersische Keilschrift entziffert.
Derzeit recherchiert Hann. Mündens Stadtarchivar Stefan Schäfer die Geschichte des Hauses und hat mit den Dokumenten, die er in der Wohnung fand, auch die Daten zur Geschichte der Familie Frank zusammengestellt. Eintragungen in einem Kalender deuten für ihn darauf hin, dass Wilhelm Frank nach seiner Rückreise 1983 nicht noch einmal in der Wohnung gewohnt hat, sondern das Haus von Kanada aus verwaltet hat.
Die Geschichte der Familie Frank in der Ziegelstraße 39 beginnt im Jahr 1955. In dem Jahr kauften Nathanael und Martha Frank das 1687 erbaute Wohn- und Geschäftshaus für sich und ihren Sohn Wilhelm „Willi“, geboren am 5. September 1941, von Paula Mehlburger. Für Wilhelm gab es ein eigenes Zimmer unter dem Dach. Bis zu seinem 18. Lebensjahr lebte er dort, 1959 zog es ihn dann nach Kanada. Er folgte seinem älteren Bruder Heinrich „Harry“ nach, der diesen Weg wohl noch vor 1955 gegangen ist und sich in Hamilton in der Provinz Ontario niedergelassen hat. Wilhelm Frank eröffnete dort dann ein eigenes Friseurgeschäft und heiratete. Heinrich Frank starb 1971, drei Jahre vor seinem Vater.
Zur Familie gehörte zudem Arthur Frank, geboren am 28. August 1912. Er war der Sohn aus der ersten Ehe des Vaters und hatte Deutschland bereits in der frühen Nachkriegszeit in Richtung USA verlassen und in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin eine neue Heimat gefunden.

Über sein Todesdatum ist bisher nichts bekannt. In der Traueranzeige für Martha Frank wird er noch mit Ehefrau Leonide neben Wilhelm und dessen Frau Joane Frank genannt.
Als Martha Frank am 4. Mai 1983 starb, hatte sie schon lange nicht mehr in der Wohnung gelebt. Im Mai 1976 war sie in ein Altenwohnheim in Hermannshagen gezogen. Die Wohnung blieb wohl auch deshalb eingerichtet, weil Wilhelm Frank sie auf seinen Deutschlandbesuchen nutzte. Ansonsten kümmerte er sich um die Angelegenheiten seiner Mutter und die Verwaltung des Hauses von Kanada aus. Denn gänzlich ungenutzt war das Gebäude damals nicht. Der Laden im Erdgeschoss war ebenso vermietet, wie die kleine Wohnung im zweiten Obergeschoss. Im Laden betrieb ein Ehepaar bis 1995 ein Modegeschäft. Danach stand das Haus vermutlich leer. „Wilhelm Frank hat jedoch noch Grundsteuer und andere Abgaben geleistet. Er erzielte aber keine Mieteinnahmen mehr“, so Schäfer.

Ihr Erbe hatten Nathanael und Martha Frank bereits noch zu ihren Lebzeiten geregelt und das Haus ihren Söhnen Wilhelm und Heinrich übertragen. Der Sohn Arthur hatte darauf verzichtet. Nach dem Tod Heinrichs im Jahr 1971 fiel das Erbe an Wilhelm Frank und nach dessen Tod, das genaue Datum ist nicht bekannt (wahrscheinlich vor 2012), an dessen Frau Joane Nancy Banzo, von der es die Bürgergenossenschaft 2022 kaufte.
Während die Wohnung im Obergeschoss weitgehend unversehrt ist, nur ein wenig verstaubt, gibt es in anderen Räumen erhebliche Schäden, vermutlich entstanden, als das Haus leer gestanden hatte. Vernachlässigungen und das Einwerfen der Frontscheibe des Ladengeschäftes hätten die Stadt Hann. Münden gezwungen, das Haus zu betreten, berichtet Schäfer. Durch Undichtigkeiten im Dach, insbesondere löchrige Bleche an den Erkern, sei Wasser eingedrungen, und es sei zu Schäden an der Fachwerkkonstruktion gekommen. Die Frontfassade zur Ziegelstraße hin habe deswegen abgestützt werden müssen.

Für die Bürgergenossenschaft gehe es nun darum, das Gebäude zu sichern, die Geschichte des Hauses zu dokumentieren und es schließlich zu sanieren, sagt Schäfer, der auch Mitglied bei den Fachwerkschützern ist. Außerdem müsse überlegt werden, wie man es als Geburtshaus Grotefends herausstellen könne. Am 9. Juni 2025 jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal. (Ekkehard Maass)