Welche Auswirkungen die hohe Nachfrage auf die Auslastung der Busse und Bahnen hat, lässt sich schwer vorhersagen. Die NVV-Sprecherin sagt: „Es ist gut möglich, dass sich die Nutzung des 9-Euro-Tickets auch im Berufsverkehr durch erhöhte Fahrgastzahlen bemerkbar macht. Wir rechnen aber insbesondere an Wochenenden und Feiertagen mit einer erhöhten Auslastung.“
Der Fahrgastverband Pro Bahn sieht dem Start mit gemischten Gefühlen entgegen. „Es ist ein hoch interessanter Großversuch, aber im Moment überwiegen die Bedenken“, sagt Ulrich Seng vom Regionalverband Nordhessen. Man befürchte Überlastungen im Regionalverkehr. Kritisch sei unter anderem die Sperrung der Strecke von Kassel nach Hamm, auf der es ab 6. Juni einen Ersatzverkehr mit Bussen gibt. Auch der Regionalexpress RE2 zwischen Kassel und Erfurt sei schon jetzt häufig stark ausgelastet. Die Frage sei, wie die Bahn damit umgehe, wenn der Zug überfüllt ist.
Dagegen sieht die Verkehrswissenschaftlerin Angela Francke das 9-Euro-Ticket positiv. Die Kasseler Professorin für Radverkehr wertet das Angebot „auf jeden Fall als Signal in die richtige Richtung zur Unterstützung der Mobilitätswende“. Zwar wäre es sinnvoll gewesen, die Qualität des ÖPNV etwa durch eine bessere Taktung zu erhöhen, um die größere Nachfrage abzufedern: Aber: „Manche Maßnahmen müssen direkt eingeführt werden, statt monatelang über sie zu diskutieren und es dann im Endeffekt doch nicht umzusetzen.“
Francke wird die Wirkung des 9-Euro-Tickets mit anderen Wissenschaftlern bundesweit erforschen – etwa mit Befragungen.
Auf welchen Linien und zu welchen Zeiten rechnet der Nordhessische Verkehrsverbund (NVV) mit einer besonders hohen Fahrgastauslastung?
„Die tatsächliche Nachfrage können wir wie alle anderen nicht abschätzen, jedoch gehen wir davon aus, dass besonders touristische Ziele wie der Edersee, Meißner, Reinhardswald und das Sauerland besucht werden“, sagt eine NVV-Sprecherin. „Darüber hinaus rechnen wir mit vielen Fahrgästen auf der Buslinie 500 von Kassel nach Bad Wildungen, den wichtigen Bahnstrecken von Kassel nach Frankfurt, von Kassel über Melsungen nach Bad Hersfeld, von Kassel nach Korbach und den Regiotram-Strecken von Kassel aus Richtung Wolfhagen, Hofgeismar und Melsungen.“
Was erwartet die Kasseler Verkehrsgesellschaft (KVG)?
„Wir erwarten mehr Fahrgäste vor allem im Freizeitverkehr, also nachmittags, abends sowie an Wochenenden“, erklärt KVG-Sprecherin Heidi Hamdad. „Wir schätzen aber, dass auch mehr Berufstätige das 9-Euro-Ticket nutzen und in Bus oder Bahn umsteigen werden.“ Erste grobe Schätzungen über die Zuwächse an Fahrgästen seien aber frühestens ab Donnerstag möglich.
Werden mehr Züge eingesetzt?
An den Wochenenden würden die Kapazitäten auf Regionalzug- und Regiotram-Linien im NVV-Gebiet dadurch verstärkt, dass mehr Plätze über Doppeltraktionen und größere Züge angeboten werden, teilt die NVV-Sprecherin mit. Aber das sei nicht überall möglich, weil Personal und zusätzliche Fahrzeuge immer Mangelware seien. Zusätzliches Personal an wichtigen Umsteigebahnhöfen wie Kassel-Wilhelmshöhe und Bebra solle die Fahrgäste informieren und leiten. Bei Großveranstaltungen werde es ein Zusatzangebot der KVG geben. Deren Sprecherin Hamdad sagt aber auch: „Unser Fahrpersonal, die Fahrzeuge und damit alle KVG-Bereiche werden in diesem Sommer ohnehin stark gefordert. Eine weitere Ausweitung der Verkehre ist deshalb nicht machbar.“
Wie schätzt der NVV den Nutzen des 9-Euro-Tickets für die Förderung des ÖPNV ein?
„Das 9-Euro-Ticket kann dazu beitragen, mehr Menschen an den Nahverkehr in der Region heranzuführen. Damit aber noch mehr Menschen auch langfristig vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen, braucht es nicht nur günstige Preise, sondern vor allem gute und verlässliche Verbindungen“, sagt die Sprecherin. Der NVV wolle für die Fahrgäste auch weiterhin ein überzeugendes ÖPNV-Angebot bereitstellen – sei dafür jedoch auf eine dauerhaft auskömmliche Finanzierung durch Bund und Land angewiesen.
Was sagt der Fahrgastverband Pro Bahn Nordhessen zur starken Nachfrage?
Regionalsprecher Ulrich Seng sagt, die Nachfrage zeige, dass die Fahrpreise in Bus und Bahn für Gelegenheitsfahrer „einfach zu hoch sind“. Gerade bei Zugfahrten im Regionalverkehr, für die es keine Sparpreise gebe wie im Fernverkehr, seien Einzelfahrten zu teuer. Mit dem 9-Euro-Ticket könnte die Reise mittelfristig zu günstigen Dauerkarten für alle gehen.
Könnte das 9-Euro-Ticket die Verkehrswende unterstützen?
Ja – davon geht zumindest Angela Francke aus. Die Verkehrswissenschaftlerin ist Fahrrad-Professorin an der Kasseler Uni. Mit anderen Wissenschaftlern untersucht sie bundesweit die Auswirkungen des 9-Euro-Tickets. Francke kann sich sehr gut vorstellen, dass das Angebot „die Menschen dazu bringt, vom Auto auf Bus und Bahn umzusteigen“. Es könnten neue Fahrgäste hinzugewonnen werden, die bisher „vom ÖPNV abgeschreckt waren, weil ihnen das Tarifsystem zu kompliziert ist oder ihr Auto vor der Tür steht“.
Ist damit zu rechnen, dass alle Busse und Bahnen drei Monate voll sein werden?
Nicht unbedingt, meint Expertin Francke. Es werde verschiedene Effekte geben. Am Anfang sei mit einer hohen Nachfrage zu rechnen, danach werde es sich vermutlich etwas anpassen. Tagesausflüge werden wohl zunehmen. Und es wird laut Francke auch zusätzlichen Verkehr durch das Ticket geben: „Statt zu Fuß in den Park zu gehen, wird etwa als Tagesausflug mit dem Zug nach Göttingen gefahren.“ Die Ergebnisse ihrer Untersuchung will sie im Herbst veröffentlichen. (Katja Rudolph, Florian Hagemann, Matthias Lohr)