Interview mit Kasseler Rechtsanwalt: „Ein Gefängnis ist kein Ort für Kinder“

Der Strafverteidiger Jorg Estorf aus Kassel beantwortet Fragen über die Strafunmündigkeit von Kindern unter 14 Jahren.
Kassel – Nachdem zwei Mädchen im Alter von zwölf und 13 Jahren gestanden haben, die zwölfjährige Luise mit mehreren Messerstichen in Freudenberg (Nordrhein-Westfalen) getötet zu haben, ist die Debatte erneut darüber ausgebrochen, ob auch Kinder unter 14 strafmündig sein sollten. Über dieses Thema sprachen wir mit dem Kasseler Strafverteidiger Jorg Estorf.
Warum können Kinder unter 14 Jahren nicht für ihr Handeln bestraft werden?
Nach dem Strafgesetzbuch gilt der als schuldunfähig, der bei Begehung der Tat noch keine 14 Jahre alt ist. Dieser Grundsatz gilt ausnahmslos. Er ist damit unabhängig von Persönlichkeit und „Reifegrad“ des Kindes anzuwenden. Der Rechtsstaat kann im aktuellen Fall die mutmaßlichen Täterinnen im Alter von zwölf und 13 Jahren also strafrechtlich nicht belangen. Dennoch ist er nicht machtlos. Zusätzlich können hier die Jugendämter und Familiengerichte ins Spiel kommen und mit schwerwiegenden Maßnahmen eingreifen. Möglich ist es zum Beispiel, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen und die Kinder in Heimen und unter bestimmten Umständen auch zwangsweise in einer psychiatrischen Einrichtung unterzubringen.
Sind Sie für eine Herabsetzung der Altersgrenze?
Ich sehe keine sachlichen Gründe, die dies im Moment notwendig machen, auch wenn die aktuelle Tat Entsetzen hervorruft und wir mit den Eltern und Angehörigen des zwölfjährigen Opfers mitfühlen. Für eine Herabsetzung der Altersgrenze könnte ein starker Anstieg der Fallzahlen dieser Altersgruppe in der Kriminalstatistik sprechen. Ein Blick in die Statistik des Landes Hessen ergibt jedoch ein eher rückläufiges beziehungsweise stagnierendes Bild, selbst unter Berücksichtigung der Corona-Entwicklungen. Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich Einrichtungen wie das „Haus des Jugendrechts“ in Kassel, in dem die beteiligten Behörden wie Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendamt inhaltlich und räumlich eng zusammenarbeiten. Dadurch kann im Einzelfall schnell reagiert und auf negative Entwicklungen konsequent eingewirkt werden. Eines ist sicher klar: Ein Gefängnis ist kein Ort für Kinder.
Wie gehen andere europäische Länder damit um?
In anderen europäischen Ländern sind die Altersgrenzen sehr unterschiedlich geregelt: In Frankreich und Großbritannien gelten Kinder bereits mit zehn Jahren als strafmündig; in den Niederlanden und Ungarn liegt die Strafmündigkeit bei zwölf Jahren, wohingegen in Luxemburg die Altersgrenze bei 18 Jahren gezogen wird. (Interview: Ulrike Pflüger-Scherb)
