Dass Ina Küster gelernt hat, mit dem Verlust ihrer Tochter zu leben, habe auch mit der Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ zu tun, sagt die Lehrerin. „Es gibt aber keinen Tag, an dem ich nicht an Sandra denke. Denn die Zeit heilt nicht alle Wunden. Aber man lernt, mit den Wunden zu leben.“
Zudem finde sie viel Rückhalt in ihrer Familie, sagt Ina Küster. Allerdings habe sie seit Sandras Tod extreme Trennungsangst. Sie frage sich immer nach einem Abschied, ob ihr Mann, mit dem sie in zweiter Ehe verheiratet ist, ihre vier Söhne, die Geschwister und Eltern auch wirklich wiederkommen.
Zudem habe sich ihr Leben nach dem Tod ihrer Tochter, zu der sie eine enge Beziehung hatte, sehr verändert. Im Gegensatz zu früher besuche sie eigentlich keine öffentlichen Veranstaltungen mehr, sondern halte sich in erster Linie im Familienkreis auf. Silvesterpartys gibt es für Ina Küster seit 20 Jahren nicht mehr, sie nimmt auch nicht mehr an Veranstaltungen von Vereinen teil.
Ina Küster, die in Staufenberg lebt, fährt auch nicht mehr nach Kassel. „Kassel ist für mich immer verbunden mit Sandras Tod.“ Dort gibt es zu viele Trigger. Undenkbar, dass sie dort den Weihnachtsmarkt besuchen könnte. Nur noch einmal im Jahr fährt sie in die Stadt, an die Stele im Steinweg, an der Sandra gestorben ist. Das wird wieder am 22. Dezember der Fall sein.
Drei junge Menschen starben bei Unfall am Steinweg in Kassel
Drei junge Menschen verloren am 22. Dezember 2002 bei dem folgenschweren Unfall am Steinweg in Kassel ihr Leben. Sandra (16), Tim (16) und Timo (18) sowie eine 17-jährige Freundin, die überlebte, waren nach dem Besuch der Disco „Almrausch“ in Kassel in das Auto eines damals 20-Jährigen gestiegen, der sie mit nach Hause nehmen sollte. Das war ein tödlicher Fehler, denn der Fahrer war stark alkoholisiert.
Der Fahrer, der den schweren Unfall überlebte, wurde im Jahr 2005 in zweiter Instanz vor dem Kasseler Landgericht wegen fahrlässiger Tötung in drei Fällen, fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung durch Trunkenheit sowie Freiheitsberaubung mit Todesfolge in drei Fällen sowie Freiheitsberaubung mit Gesundheitsschädigung zu einer dreijährigen Jugendstrafe verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er mit zwei Promille und knapp 100 km/h gegen den Baum am Steinweg gerast war und die jugendlichen Insassen offensichtlich gegen deren Willen in seinem Auto festgehalten hatte.
Die Vorweihnachtszeit ist für Eltern, die ein Kind verloren haben, nur schwer zu ertragen. Ganz besonders schlimm ist diese Zeit für Petra und Thomas Meyer aus Neuental (Schwalm-Eder-Kreis). Ihre Tochter Julia, die im Juli 2016 bei einem Wanderurlaub bei Innsbruck an den Folgen eines Hirnschlags im Alter von 32 Jahren gestorben ist, war ein „absoluter Weihnachtsfreak“, erzählt Thomas Meyer. „Sie wusste im November schon, was es Weihnachten zu essen gibt.“
Der Tod ihrer Tochter kam für die Meyers aus heiterem Himmel. Die 32-Jährige war im Juli 2016 mit ihrem Freund bei einem Wanderurlaub in der Nähe von Innsbruck, als sie den Hirnschlag erlitt. Obwohl sie in einer Gruppe mit erfahrenen Leuten unterwegs gewesen ist und der Rettungshubschrauber schnell vor Ort war und die beste Versorgung ermöglicht worden sei, habe es für Julia keine Rettung mehr gegeben, erzählt Meyer.
Er und seine Frau sowie der jüngere Sohn eilten sofort nach Tirol. „Mittwoch ist es passiert, am Freitag wurden die Geräte bei Julia abgestellt“, sagt der 63-jährige Elektroplaner.
„Wir werden nie wieder nach Innsbruck reisen und können nie wieder mit Freunden an den Gardasee fahren, weil wir dann an Innsbruck vorbeikommen“, steht für Thomas Meyer fest. Bis heute könne er auch nicht die CD hören, die seine Tochter, die Bassistin und teilweise Sängerin in einer Band war, aufgenommen hat. Er könne sich auch bis heute keine Fotoalben von Julia anschauen.
Thomas Meyer kann allerdings voller Stolz über Julia erzählen, die die Musik, Kultur, Sprache und Medien studiert hat. Julia lebte mit ihrem Freund, den sie noch 2016 heiraten wollte, in Köln und arbeitete für ein Non-Profit-Unternehmen in der Medienbranche. Allerdings nur vier Tage in der Woche. Freizeit sei Julia wichtig gewesen.
Julia kletterte leidenschaftlich gerne und war Pressereferentin im Deutschen Alpenverein, Sektion Köln. Und sie hat in ihren jungen Jahren viel von der Welt kennengelernt. Sie war in England, Schottland und hat Englischkurse in Kirgisistan gegeben.
„Julia lebte auf der Überholspur. Sie hat in so kurzer Zeit so viel gemacht, da brauchen andere Menschen 40 Jahre für oder länger.“ (use)
In einer anderen Selbsthilfegruppe in Kassel finden sich Menschen mit unkontrollierbaren Ängsten zusammen.