Nordhessen gegen Südhessen: Ist diese Rivalität noch zeitgemäß?

In der neuen Landesregierung gibt es keinen einzigen Nordhessen. Das schürt rund um Kassel den Unmut auf den angeblich arroganten Süden. Woher kommt diese Rivalität?
Kassel – Selbst in Südhessen wundert man sich, dass es in der Landesregierung in Wiesbaden keine Nordhessen mehr gibt. Vorige Woche hat der neue Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) die Kasseler Justizministerin Eva Kühne-Hörmann ausgetauscht. Die zwölf Posten im Kabinett werden nun ausnahmslos von Politikern aus Südhessen besetzt. Den Frankfurter Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger hat dies verwundert, wie er sagt.
Als Professor in Marburg hat der heute 73-Jährige viel über den ländlichen Raum geforscht. Hafeneger findet, dass ein Regierungschef bei der Zusammensetzung seines Kabinetts nicht nur auf den fachlichen Aspekt achten sollte: „Dazu zählt auch der regionale Proporz. Andernfalls fühlen sich Landesteile nicht vertreten und abgehängt.“ Der Vellmarer SPD-Landtagsabgeordnete Oliver Ulloth hatte schon zuvor gewettert: „In der CDU denkt man nur bis Gießen. Für unsere Region ist das unerträglich.“
Seine Region fühlt sich nicht zum ersten Mal abgehängt. Traditionell gibt es eine große Rivalität zwischen Nord- und Südhessen, die die Kabinettsumbildung in Wiesbaden umso problematischer erscheinen lässt. Schon die inoffizielle Landeshymne macht deutlich, was zwischen Bad Karlshafen und Bensheim schief läuft. In ihrem Hit „Die Hesse komme“ sangen die Rodgau Monotones 1984 über Äppelwoi, Kraut und Rippchen sowie Heinz Schenk, aber nicht über Ahle Worscht und Weckewerk. Nicht erst seitdem denken alle außerhalb Hessens, in ganz Hessen würde gebabbelt.
Dem 1945 gegründeten Bundesland fehlt eine gemeinsame Identität. Daran konnte bislang auch der jährlich stattfindende Hessentag nichts ändern. Stattdessen halten sich die Vorurteile auf beiden Seiten. Der Kasseler Linken-Stadtverordnete Mirko Düsterdieck hat einst im Frankfurter Gallus-Viertel gelebt. Babbeln findet er immer noch einen „ordinären Dialekt“ und die Frankfurter arrogant: „Die glauben, sie seien weltgewandt und die Nordhessen Bauern.“
Diese Rivalität wird vor allem im Auestadion ausgelebt, wo die Fußballer des KSV Hessen immer noch in der vierten Liga kicken, während die Frankfurter Eintracht als Europa-League-Sieger gerade eine Art „Europameister der Herzen“ wurde. Gern wird auch auf den „Südhessischen Rundfunk“ geschimpft. Dabei gibt es nicht wenige Abende im HR-Fernsehen, an denen so ausführlich aus Kassel, Korbach und Eschwege berichtet wird, dass man sich fragt: Hoffentlich schimpfen sie im Süden nicht auf den „Nordhessischen Rundfunk“. Mit ihrem Minderwertigkeitskomplex haben es sich die Nordhessen bequem gemacht. Das Gefühl, schlechter dran zu sein als die anderen, kann zusammenschweißen und identitätsstiftend wirken.
Dabei gibt es dafür laut dem Experten Hafeneger gar keinen Grund mehr: „Zwar bilden Frankfurt, Wiesbaden und Darmstadt ein politisches und wirtschaftliches Machtzentrum. Aber die Region um Kassel hat in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewonnen.“ Den denunzierenden Begriff „Hessisch Sibirien“ für die Region im Norden würde im Süden niemand mehr benutzen.
Achim Frenz kann sich noch gut daran erinnern, wie er das Wort oft von Kollegen aus Südhessen hörte. Das war in den 1980er-Jahren, als er für die Nordhessenausgabe des legendären Frankfurter Stadtmagazins „Pflasterstrand“ arbeitete. Der gebürtige Bremerhavener war zum Studium nach Kassel gekommen, gründete hier die Caricatura-Galerie und ging vor 22 Jahren nach Frankfurt, wo er bis heute das Caricatura-Museum leitet.
Frenz pendelt zwischen seinen Wohnungen in Kassel und Frankfurt und kennt beide Welten. In Mainhattan glaube man, man lebe in einer Metropole wie New York: „Wenn man sich in Frankfurt großkotzig fühlen will, stellt man sich neben ein Hochhaus. Und wenn man normal sein will, geht man nach Sachsenhausen.“
In Nordhessen bleibt man dagegen immer auf dem Boden. In Kassel beispielsweise weiß man, dass die Kunstwelt nach der documenta wieder abreist und erst in fünf Jahren wiederkommt. Bis dahin hat man seine Ruhe in den einsamen Wäldern, die es im Rhein-Main-Gebiet nicht gibt.
Frenz übrigens feiert seinen Geburtstag jedes Mal in Kassel. Die Frankfurter reisen dann alle nach Norden und können sich davon überzeugen, dass es in Hessisch Sibirien viel schöner ist als im Süden. (Matthias Lohr)