Die Stadt weist die Vorwürfe zurück. Es handele sich um „einzelne Versäumnisse“, die etwa auf technische Probleme bei der Umsetzung von Baumpflanzungen zurückzuführen seien. In anderen Fällen sei der Ausgleich schlicht noch nicht erfolgt, dies werde aber nachgeholt.
Vor allem dort, wo die Stadt oder deren Eigenbetriebe selbst für die Schaffung von Ausgleichsflächen zuständig seien, geschehe dies in aller Regel auch, so Stadtbaurat Christof Nolda (Grüne). Nolda räumt aber ein, dass private Bauherren ihren Auflagen teilweise nicht nachkämen. Bei einer systematischen Kontrolle in der vor 25 Jahren neu bebauten Unterneustadt habe die Stadt festgestellt, dass 40 Prozent der vorgeschriebenen Maßnahmen (Baumpflanzungen, Gründächer etc.) auch nach Jahren nicht erfolgt sind. Die Bauaufsicht handele immer dann, wenn ihr solche Fälle bekannt würden. Ansonsten habe sie mit der Kontrolle des Brandschutzes schon genug zu tun.
Umweltverbände erheben Vorwürfe
Kassel – Der beste Schutz für die Natur sei es, möglichst wenig in sie einzugreifen. Denn ein vollständiger Ausgleich sei „nur selten möglich“. So steht es auf der Internetseite des Hessischen Umweltministeriums. Weil ein Hausbau immer ein Eingriff in die Natur ist, werden im Bebauungsplan entsprechende Ausgleichsmaßnahmen vorgeschrieben. Aus Sicht von Kasseler Umweltverbänden werden diese aber nur unzureichend erfüllt und von der Stadt zu wenig überprüft und geahndet.
Vorwurf der Untreue
In mehreren Fällen sehen der BUND Kreisverband Kassel, der Nabu Region Kassel, der Kasseler Arbeitskreis der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON) und der Kreisverband der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald auch die Kommune unmittelbar in der Verantwortung. Wenn diese Neubaugebiete entwickele, werde von den Grundstückskäufern anteilig zum notwendigen Ausgleich Geld vereinnahmt, um die Kompensationsmaßnahmen zu finanzieren.
Diese zweckgebundene Einnahme sei nachweislich in mehreren Fällen noch nicht für die vorgesehenen Ausgleichsprojekte ausgegeben worden. Deshalb wolle man prüfen lassen, ob damit der Straftatbestand der Untreue erfüllt sei. Die Stadt weist derartige Vorwürfe zurück.
Kontrolle gefordert
Die Umweltverbände fordern von der Stadt, die Ausgleichsdefizite zu beheben und Bauherren stärker zu kontrollieren, dass sie ihre Auflagen erfüllen. In der zentralen Datenbank Natureg des Landes Hessen, in der alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen und ihr jeweiliger Umsetzungsstatus dokumentiert sein müssen, habe die Stadt seit 2017 keine Eintragung mehr vorgenommen. Die Stadt begründet dies mit Systemproblemen beim Landesportal. Vier Jahre lang seien keine Eintragungen möglich gewesen. Erst seit Kurzem laufe das System wieder.
Auch der Hessische Rechnungshof hatte die Versäumnisse bei Land und Kommunen moniert. In seinen Bemerkungen hieß es zuletzt: „Die Umsetzung durchzuführender Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen wurde nicht hinreichend kontrolliert, festgestellte Mängel häufig nicht behoben.“ Die seit Jahren bekannten Defizite verfolge das Umweltministerium nicht mit Nachdruck, heißt es weiter.
Stadtbaurat Christof Nolda (Grüne) verweist darauf, dass die Bauaufsicht personell nicht in der Lage sei, flächendeckend zu prüfen, ob Auflagen eingehalten würden. Es gebe lediglich Stichproben. Andere Aufgaben – etwa der Brandschutz – hätten eine höhere Priorität. Für Hinweise von Verbänden oder Bürgern auf Defizite sei die Behörde dankbar. „Klar ist, der Bauherr ist letztlich in der Verantwortung“, sagt Nolda. In der Regel hafte der Architekt. Bei Verstößen drohten Bußgelder oder Ersatzpflanzungen. Ein als Ausgleich festgesetzter Baum dürfe auch später nicht einfach entfernt werden.
Beispiele
Die Umweltverbände haben die im Natureg vermerkten Ausgleichsmaßnahmen mit Luftbildern verglichen und sind so auf Defizite bei der Umsetzung gestoßen. Hier einige Beispiele.
Für Neubauten eines Investors „An der Kurhessenhalle“ (Niederzwehren) hätte dieser im Gegenzug 6000 Quadratmeter Ackerflächen in Nords-hausen in für die Natur wertvolleres Grünland umwandeln müssen. Weil der ursprüngliche Bauherr insolvent wurde und der neue Käufer der Baugrundstücke sich nicht als Rechtsnachfolger sah, ist die Kompensation nie erfolgt.
Für das 2006 geplante Neubaugebiet „Auf dem Dessenborn“ (Wolfsanger) monieren die Verbände mehrere Defizite. Die im Lohbergstraße festgesetzten sechs Bäume fehlten. Ebenso mehr als 40 Bäume, die westlich vom Grenzweg gepflanzt werden sollten. Die Stadt konnte die Gründe dafür nicht klären. Im Kinderwiesenweg seien von 20 vorgeschriebenen Bäumen nur 15 gepflanzt. Die 20 an der Straße „Dessenborn“ geplanten Bäume fehlen ebenso komplett. Diese würden mit dem Endausbau der Straße noch gepflanzt, teilt die Stadt mit.
Für das benachbarte Neubaugebiet „Triftweg“ hätte der gleichnamige Weg ebenfalls mit Bäumen gesäumt werden sollen. Dies erfolge noch mit dem Endausbau der Straße, teilt die Stadt mit. Die Verbände halten es für nicht nachvollziehbar, warum so viele Jahre nach Baubeginn die Bäume nicht gepflanzt werden konnten.
Im 1994 geplanten Quartier Steinstückerweg (Harleshausen) seien von 41 vorgeschriebenen Bäumen an den dortigen Straßen nur 34 vorhanden. Auch in den privaten Gärten fehlten viele notwendige Bäume.
Von den im Bebauungsplan „Kunoldstraße“ 1999 festgelegten 19 Bäumen an der Wilhelmshöher Allee zwischen Kunoldstraße und Rolandstraße seien 13 gepflanzt. Die Stadt konnte nicht klären, warum dieses Defizit besteht. (Bastian Ludwig)