Die HNA in der Ukraine – Der Friedhof von Zhytomyr: Platz für Helden wird knapp

Eine Woche lang reist HNA-Redakteur Gerd Henke mit Unterstützern aus dem Kreisteil Hofgeismar in die Ukraine. Diesmal führt sie ihre Reise nach Zhytomyr.
Zhytomyr – Zhytomyr ist mit etwa 270 000 Einwohnern etwas größer als Kassel und Sitz der Regierung im gleichnamigen Oblast (Bezirk). Dass ein Krieg ausgebrochen war, wurde den Bewohnern der Stadt an jenem Tag im Februar 2022 schlagartig klar: Frühmorgens, 5 Uhr, wurden sie am 24. Februar durch zwei gewaltige Detonationen aus dem Schlaf gerissen.
Russische Kampfflugzeuge hatten den Militärflughafen acht Kilometer außerhalb der Stadt bombardiert. Der heute mit seiner Familie in Westuffeln lebende Anton Krawitz hielt das Feuer und die kilometerhohe Rauchsäule auf einem vom Fenster aus gedrehten Video fest. Glücklicherweise kamen an diesem Tag keine Menschen zu Schaden.
Dazu kam es aber schon in der zweiten Wochen nach Kriegsausbruch. Da wollten die Russen am Abend den Sitz der Bezirksregierung in der Stadtmitte unter Beschuss nehmen. Doch die Rakete traf nicht den Regierungssitz, sondern das College 25. Ein Passant wurde getötet, ein anderer schwer verletzt. Bis heute liegen große Teile des Gebäudes in Trümmern. Hundert Meter weiter sind die Fenster einer Kirche mit Spanplatten verschlossen, nachdem eine Druckwelle alle Scheiben bersten ließ.

Die HNA in der Ukraine – Der Friedhof von Zhytomyr: Geburtsklinik wurde zerstört
Schlimmer noch traf es einige Tage später eine Geburtsklinik und den benachbarten Supermarkt. Bei diesem Angriff kamen sechs Menschen ums Leben, mehrere wurden verletzt. Internationale Medien berichteten über den Einschlag und der Bürgermeister geißelte vor den Kameras der Weltpresse die inhumane Kriegsführung der Russen, die zivile Opfer billigend in Kauf nehme. Gegolten hatte der Angriff angeblich einer Kaserne in direkter Nachbarschaft von Klinik und Supermarkt.
Diese Ruinen noch vor Augen, unterhalten wir uns mit unseren ukrainischen Begleitern über die Sinnlosigkeit dieser blinden Zerstörung. Aber wenig später, nach kurzer Autofahrt vor die Tore der Stadt, verstummen wir. Wir betreten den zentralen Friedhof der Stadt. Auf etwa einer fünf Hektar großen Fläche sind hier alle Gräber erkennbar neu angelegt. Unter den Kreuzen und reich geschmückten Gräbern „liegen unsere Helden“, flüstert Larissa, unsere Dolmetscherin.
Auf diesem Gelände ist mit Händen zu greifen, welch tiefe Wunden der Krieg in dieses Land reißt. Es haben inzwischen mehr als tausend Gefallene hier ihre letzte Ruhe gefunden: Zwanzigjährige, Dreißigjährige, Vierzigjährige und Ältere, Männer und Frauen. Es ist kein anonymes Gräberfeld. Auf jedem Kreuz stehen Name, Geburtstag und Todestag geschrieben – und ein Foto. Es sind Bilder aus einer unbeschwerten Vergangenheit – aufgenommen in den schönen Stunden dieser gewaltsam beendeten Leben. Die Bilder wirken, als seien sie erst gestern aufgenommen worden. Sie unterstreichen die Tatsache, dass hier Menschen aus dem Leben gerissen wurden – wie Janina, die am 5. September im Alter von 48 Jahren gefallen ist oder Wladimir, der am 29. Dezember, nur dreiundvierzigjährig, starb.
Krieg in der Ukraine: Auf dem Friedhof von Zhytomyr entstehen stetig neue Gräber
Auf dem Soldatenfriedhof in Zhytomyr wird klar, welch ungeheurer Blutzoll der Ukraine in diesem Krieg abverlangt wird. Die Regierung gibt keine Zahlen bekannt. Der Verteidigungsminister sagte kürzlich, dass die Zahl der gefallenen Ukrainer unter der Zahl der Erdbebenopfer in der Türkei liege – das wären nach offiziellen türkischen Angaben mehr als 50 000 Tote. Ob die Angaben des Ministers zutreffen, weiß niemand.

Niemand unserer Gesprächspartner kann einschätzen, wie lange der Krieg dauern wird. Hoffnung, dass er bald endet, hat niemand. Auch die Bezirksregierung von Zhytomyr nicht. Die lässt neben den vorhandenen frischen Gräbern gerade ein weiteres großes Feld anlegen. Baufahrzeuge waren auch dort gestern im Einsatz. Es sind Planierarbeiten für die nächsten Helden-Gräber.
Trotz des Krieges muss das Leben aber weitergehen. Auch im Altenheim von Iwanowa. Seit Jahren unterstützen Günter Rüddenklau und Ottmar Rudert das Heim mit seinen 45 Bewohnern. Sie brachten Pflegebetten, medizinisches Gerät, Kleiderschränke und Rollstühle – und immer wieder auch Lebensmittel. Am Mittwoch dieser Woche waren die beiden wieder vor Ort und die Freude bei Bewohnern und Schwestern war groß. Außer mit Sachspenden wird das Heim monatlich mit 1000 Euro aus Nordhessen unterstützt. „Ohne eure Hilfe könnten wir es unseren Bewohnern nicht so erträglich machen“, betont Pfarrer Nikolai, der Verbindungsmann von Rudert und Rüddenklau.
Im Heim lebt zum Beispiel Andre, der sich ohne den gespendeten Rollstuhl des Sanitätshauses Wilhelmshöhe nicht fortbewegen könnte. Weil der Krieg viele Kräfte bindet, herrscht auch im Altenheim Personalnot. Am Mittwoch sind allein Olga und Jekatarina da, um alle Bewohner zu versorgen. Aber die Hilfe aus Deutschland „hilft uns, auch diesen Arbeitstag erfolgreich zu überstehen“, sagt Olga mit einem Lächeln auf dem Gesicht. (Gerd Henke)
Wie die Reise in die Ukraine von HNA-Redakteur Gerd Henke, Günter Rüddenklau und Ottmar Rudert aus dem Kreisteil Hofgeismar begann, lesen Sie hier.