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Interview mit Schulpsychologin zu Folgen von bedrohlichen Lagen: „Kinder haben ganz sensible Antennen“

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Von: Natascha Terjung

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Ist für Schüler, Eltern und Lehrer da: Schulpsychologin Anna Mensinger unterstützt Schulen im Landkreis Kassel. Nach kritischen Ereignissen sind Schulpsychologen auch vor Ort in den Schulen tätig, um psychologische Gespräche anzubieten.
Ist für Schüler, Eltern und Lehrer da: Schulpsychologin Anna Mensinger unterstützt Schulen im Landkreis Kassel. Nach kritischen Ereignissen sind Schulpsychologen auch vor Ort in den Schulen tätig, um psychologische Gespräche anzubieten. © Natascha Terjung

Bedrohliche Situationen an Schulen, wie etwa der Amokalarm an Schulen in Bad Karlshafen, sind keine Seltenheit mehr. Wie können Schüler, Eltern und Lehrer damit umgehen?

Kreisteil Hofgeismar – Bedrohliche Situationen an Schulen – wie etwa der Amokalarm an der Marie-Durand- und der Sieburgschule in Bad Karlshafen vor einigen Wochen (wir berichteten) – sind leider keine Seltenheit mehr. Was löst das bei Schülern, Eltern und Lehrern aus, wo finden sie Hilfe und welche Folgen zieht so ein Ereignis nach sich? Diese Fragen beantwortet Anna Mensinger im Interview. Sie ist als Schulpsychologin mit dem Schwerpunkt Gewaltprävention beim Staatlichen Schulamt in Kassel tätig und betreut mehrere Schulen im Landkreis Kassel.

Was können ein Amoklauf oder ähnliche Bedrohungssituationen bei Kindern und Jugendlichen auslösen?

Krisenhafte oder kritische Ereignisse können erstmal Gefühle von Hilflosigkeit und Angst auslösen. Es entsteht der Gedanke, dass man keine Möglichkeit mehr hat, so eine Situation zu beeinflussen. Das passiert bei uns Menschen immer, wenn wir in solche Situationen geraten – man hat es ja auch nicht in der Hand, wenn ein Unfall passiert oder Ähnliches. Es ist erstmal normal, dass der Körper dann in eine Art Krisenmodus geht. Das sind meist typische Angstreaktionen wie Herzrasen, schweißnasse Hände, motorische Unruhe und schnelles Atmen. Viele haben nach solchen Erlebnissen häufig Probleme beim Einschlafen oder Konzentrationsschwierigkeiten. Das sind ganz normale Körperreaktionen. Es ist sehr wichtig, das mit den Kindern zu besprechen und ihnen zu erklären, dass diese Reaktionen in Ordnung sind, ohne sie zu bagatellisieren.

Sollte das Erlebte auch im Klassenverbund besprochen werden?

Da gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten. Das hängt auch von der Struktur der Klasse und vom Alter der Schülerinnen und Schüler ab. Vor allem Jugendliche kommen gern mit ihren Freunden zum Gespräch, weil sie sich so einfach wohler fühlen. Gespräche innerhalb der Klasse oder Einzelgespräche sind natürlich auch möglich. Das wird dann gemeinsam mit den Lehrkräften und der Schule besprochen und organisiert.

Können bei jungen Menschen Spätfolgen wie Traumata oder Angststörungen auftreten?

Das kann passieren. Dass Kinder wenige Stunden oder mehrere Tage nach einem kritischen Ereignis noch schlecht schlafen oder verunsichert sind, ist ganz normal. Da wäre es wichtig, dass mit den Kindern relativ zeitnah zu thematisieren. Die Kinder sind schon auch widerstandsfähig, das darf man ihnen auch zusprechen. Die meisten Kinder haben gute Ressourcen, zum Beispiel Eltern oder Freunde und Lehrer, die das auffangen können. Das hilft den Kindern dabei, all das Erlebte zu verarbeiten, um zum Beispiel ein Trauma zu verhindern. Wenn die Situation nach ungefähr vier Wochen immer noch schwierig ist, dann sollte unbedingt nochmal ein psychologisches Gespräch stattfinden, denn es besteht die Gefahr, dass Traumafolgen zurückbleiben. Dann braucht es andere Ansprechpartner oder im Zweifel eine Therapie.

Auch für Eltern sind Bedrohungssituation eine enorme Belastung. Wie können sie ihren Kindern und sich selbst helfen?

Es ist wichtig, dass die Erwachsenen einen guten Blick auf die Kinder haben und immer mal fragen – ohne aufdringlich zu sein – wie es ihnen gerade geht. Auch für Eltern ist das eine Ausnahmesituation und sie reagieren dementsprechend auch ängstlich und voller Sorgen. Den Kindern hilft vor allem das, was sie in der Krisensituation nicht hatten: Sicherheit. Eltern sollten versuchen, ruhig zu bleiben und in Kontakt mit den Kindern ihre Sorgen nicht ungefiltert zu äußern. Wichtig ist, dass sie den Kindern ihre Gesprächsbereitschaft signalisieren und ihnen zeigen, dass man das, was sie erzählen, nicht bewertet. Kinder verknüpfen solche Ausnahmesituation oft mit fantasievollen Geschichten. Das ist ihre Art, damit umzugehen. Gleichzeitig sollten Kinder entscheiden dürfen, wann und ob sie darüber reden möchten. Für die Eltern ist es natürlich häufig schwer, nicht nachzuhaken. Die jungen Menschen suchen jedoch meist von allein das Gespräch.

Und wenn die Kinder gar nichts sagen?

Erstmal ist das ihr gutes Recht. Man muss aber schauen, was das für Auswirkungen hat. Wenn Hobbys plötzlich nicht mehr ausgeübt werden, die Kinder nicht mehr gerne in die Schule gehen, ständig Bauchschmerzen haben, dann gibt es für die Eltern immer die Möglichkeit, sich Hilfe zu holen. Sei es bei den Lehrkräften, der Schulpsychologie oder Beratungsstellen – kein Elternteil muss alleine mit solchen Situationen fertig werden, wir haben viele gute Unterstützungsmöglichkeiten.

Gehen Kinder je nach Alter unterschiedlich mit Krisensituationen um?

Je jünger die Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, das Erlebte in ihr Weltbild zu integrieren. Das heißt, die Kinder brauchen mehr Unterstützung, um das alles zu verstehen. Häufig drücken sie das, was sie erlebt haben, anders aus. Kinder verarbeiten Dinge zum Beispiel beim Spielen. Je älter die Kinder werden, umso leichter fällt es ihnen auch, Worte dafür zu finden und sich im Austausch miteinander oder mit Erwachsenen zu helfen. Häufig sind dann auch Lehrer und Psychologen die ersten Ansprechpartner, weil sie mit mehr Abstand auf die Situation schauen.

Lehrer sind für die Kinder Bezugspersonen. Wie können sie sich in Ausnahmesituationen verhalten?

Es gibt Leitfäden und Handreichungen für die Schulen für solche Situationen. Das gibt Sicherheit, wie Lehrer in krisenhaften Situationen reagieren können. Nichtsdestotrotz sind sie Menschen wie wir alle und reagieren auch so. Trotzdem gelingt es den Lehrern aufgrund ihrer Ausbildung in der Regel in ihrer Rolle zu bleiben, für die Kinder da zu sein und ihr Wohl im Blick zu behalten. Kinder haben ganz sensible Antennen und spüren oft, wenn es ihre Lehrer auch berührt, was da passiert ist. Und das darf auch sein. Das ist menschlich und macht auch die Schule menschlich.

Wie arbeiten Schulpsychologen im Allgemeinen?

Es gibt keinen typischen Alltag und wir müssen unheimlich flexibel sein. Ich denke, viele stellen sich das so vor, dass wir Schulpsychologen in einer Schule sitzen und dort mit den Kindern arbeiten. Tatsächlich sieht die Realität anders aus, ein Psychologe mit einer Vollzeitstelle ist für etwa 20 Schulen zuständig. Das umfasst alle Schulformen. Wir sind für die Kinder und Jugendlichen ansprechbar, aber auch für die Lehrkräfte, die Schulleitung und für die Eltern. Wir geben Fortbildungen für Schulen zu unterschiedlichen Themen, beispielsweise aus dem Bereich der Präventionsarbeit oder zum Krisenmanagement. Die Aufgaben sind sehr vielfältig und die Arbeit als Schulpsychologin ist kein klassischer „9 to 5 Job“.

Haben sich die Probleme von Schülern über die Jahre verändert? Welche Themen stehen im Fokus?

Themen wie psychische Erkrankungen und Mobbing waren schon immer da. Ich glaube, die digitalen Medien wirken dabei aber wie ein Brennglas und dadurch werden Dinge ganz anders fokussiert. Auch das Thema sexualisierte Gewalt war immer schon da – leider – es nimmt jetzt andere Formen an. Digitalisierung kann ein zusätzliches Risiko sein, wie etwa bei Cyber-Mobbing oder -Grooming. Es ist wichtig, dass wir als Schulpsychologen das gut im Auge behalten, denn das ist die Lebensrealität der jungen Menschen.

Zur Person

Anna Mensinger (30) arbeitet seit 2020 als Schulpsychologin mit dem Schwerpunkt Gewaltprävention im Staatlichen Schulamt in Kassel. Ihren Bachelor absolvierte sie von 2011 bis 2014 an der Universität Erfurt. Anschließend machte sie ihren Master als Schulpsychologin an der Universität in Tübingen und arbeitete ab 2017 in Niedersachsen. Als Schulpsychologin ist Anna Mensinger unter anderem für die Herwig-Blankertz-Schule in Hofgeismar, die Elisabeth-Selbert-Schule in Zierenberg und die Gesamtschule Kaufungen zuständig. Zurzeit wohnt die gebürtige Sächsin in Kassel.

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