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Sexueller Missbrauch im Kirchen-Umfeld: Betroffener schildert Übergriffe eines Jugenddiakons im Raum Wesertal

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Von: Daria Neu

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Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Kontext wurden lange Zeit vollkommen tabuisiert: Nun möchte ein Mann aus dem Kreisteil Hofgeismar mit seiner Geschichte ein Zeichen setzen. Symbo
Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Kontext wurden lange Zeit vollkommen tabuisiert: Nun möchte ein Mann aus dem Kreisteil Hofgeismar mit seiner Geschichte ein Zeichen setzen. (Symbolfoto) © Peter Kneffel/dpa

Sexueller Missbrauch in der Kirche – nur Betroffene wissen, wie belastend es ist, darüber zu sprechen. Ein Mann aus dem Kreisteil Hofgeismar möchte dennoch seine Geschichte erzählen.

Kreisteil Hofgeismar – Wenn Hans (Name von der Redaktion geändert) über die sexuellen Übergriffe spricht, die ein Jugenddiakon aus der evangelischen Kirche im Raum Wesertal in den 60er-Jahren an ihm verübt hat, klingt seine Stimme ruhig und besonnen. Der Familienvater hat seine Geschichte mehrfach durchlebt, hat sie sich bewusst gemacht und sie – so gut es geht – verarbeitet. Als er Anfang Februar aus der Zeitung erfuhr, dass die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) öffentlich sexuelle Gewalt im kirchlichen Kontext eingeräumt hat, fiel sein Entschluss: „Ich möchte meine Geschichte erzählen und in erster Linie Verständnis für dieses hochkomplexe Thema wecken.“

Deshalb wolle er klare Worte finden für diese traumatisierenden Erlebnisse, die ihm bereits als 14-jährigem Pfadfinder falsch vorgekommen sind. Und er findet sie: „Ich und weitere Kinder sind von einem 2018 verstorbenen Jugenddiakon der evangelischen Kirche in den Jahren 1966 und 1967 sexuell missbraucht worden.“ Hans erinnere sich zum Beispiel daran, wie dieser im Rahmen von Pfadfinder-Aktionen Übernachtungen bei sich im Pfarrhaus in Heisebeck arrangiert habe. Er habe noch immer die Bilder im Kopf, wie er eines nachts aufgewacht sei und der Jugenddiakon nackt neben ihm gelegen habe.

Betroffener schildert sexuelle Übergriffe im Raum Wesertal: Jugenddiakon hat jede Grenze missachtet

„Er hat gesagt, dass er mich ganz doll lieb habe, ich es aber niemandem zuhause sagen dürfe.“ Dieses Erlebnis sei Hans fast mehr im Gedächtnis geblieben als die späteren sexuellen Handlungen zum Beispiel in den Zeltlagern. Die Krise, in die der Jugendliche seinerzeit gebracht wurde, könne sich vermutlich niemand vorstellen, der es nicht erlebt habe. „Das ganze Thema ist so schwierig zu greifen.“ Und zwar nicht nur, weil sexueller Missbrauch oder Pädophilie damals noch Fremdworte und Tabuthemen waren. Die Situation sei schließlich ambivalent gewesen. Einerseits habe der Jugenddiakon jede Grenze missachtet, andererseits habe er sich auch als Vertrauensperson stark gemacht. „Wir haben christliche Lieder gesungen, am Lagerfeuer gesessen, gebetet – das war eine kuriose Kombination“, erzählt Hans.

Einmal sei dem Diakon sogar aufgefallen, dass der Jugendliche eine Brille brauche. Hans habe das nicht als übergriffig empfunden, sondern vielmehr den Gedanken gehabt, um ihn werde sich an diesem Ort teilweise sogar fürsorglicher gekümmert als bei den eigenen Eltern – die Geschichte eines Kindes in einem emotionalen Dilemma.

„Von mindestens drei damaligen Jugendlichen weiß ich, dass ihnen Ähnliches passiert ist“, sagt der heute 70-Jährige. Ein Freund habe ihm damals wütend erzählt, er wolle den Jugenddiakon verprügeln, wenn er ihm noch einmal begegne. Jahre später jedoch habe derselbe Freund ihm gesagt, er könne sich nicht mehr an sexuelle Übergriffe erinnern. „Vermutlich hat er es verdrängt“, sagt Hans. Jahrzehnte lang habe er die Bilder bei sich behalten, mit niemandem öffentlich darüber gesprochen. Als er dann aber seine eigene Tochter zu einer kirchlichen Veranstaltung gebracht habe, sei es ihm klar geworden: „Es musste einfach raus.“

Hilfe für Betroffene von sexueller Gewalt

Opfer sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext können sich bei der Unabhängigen Anerkennungskommission unter unterstuetzungskommission@ekkw.de oder unter 0561/ 9 37 82 76 melden. Es ist auch möglich, sich an eine nicht-kirchliche Anlaufstelle zu wenden, zum Beispiel an einen Rechtsanwalt oder eine der unabhängigen Fachberatungsstellen. Falls weitere Betroffene lieber mit Hans Verbindung aufnehmen wollen, kann die HNA-Redaktion einen Kontakt herstellen.

Betroffener von sexueller Gewalt im kirchlichen Umfeld berichtet – Kirche hätte früher an die Öffentlichkeit gehen müssen

Im Jahr 2010 vertraute sich Hans also einem Pfarrer in seinem Heimatort an. Dieser habe großes Verständnis für seine Situation gehabt und sich stellvertretend für die Kirche bei ihm entschuldigt. Auch mit Dekan Wolfgang Heinicke und Bischof Martin Hein habe Hans daraufhin Kontakt aufgenommen.

Hans berichtet von persönlichen Gesprächen und zeigt E-Mail-Verkehr aus den vergangenen Jahren. Während der Dekan ebenfalls verständnisvoll reagiert habe, sei er über die Antwort des Bischofs erzürnt gewesen. Dieser antwortete, die Kirche habe mit der Weitergabe an die Staatsanwaltschaft das getan, was in ihrer Macht stand.

„Ich erwarte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema.“ Obwohl der Betroffene bereit gewesen wäre, an die Öffentlichkeit zu gehen, habe man ihn nicht darin bestärkt. Die Pressemitteilung Anfang Februar hätte seiner Meinung nach bereits vor rund zehn Jahren verschickt werden sollen. „Ich wünsche mir, dass nicht immer nur reagiert, sondern auch aktiv agiert wird.“

Hans wolle in erster Linie niemanden anklagen, betont er. Doch er wolle Opfern, die noch nicht bereit sind, über ihre Vergangenheit zu sprechen, stellvertretend eine Stimme geben. Denn wenn der Familienvater eines sicher weiß, dann dass diese Bilder nie mehr im Leben verschwinden. (Daria Neu)

Interview mit Pfarrer Thomas Zippert über sexualisierte Gewalt in der Kirche: „Alte Institutionen müssen den Umgang erst lernen“

Transparent zeigte sich die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), als klar wurde: Ein Betroffener möchte die Öffentlichkeit anonym darüber informieren, dass er in den 90er-Jahren im Raum Hofgeismar sexualisierte Gewalt erfahren habe. Prävention und Aufarbeitung stünden nun an allererster Stelle, betonte die Landeskirche Anfang des Monats in ihrer eigeninitiativen Pressemitteilung.

Landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt Dr. Thomas Zippert, Pfarrer und landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt.
Landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt Dr. Thomas Zippert, Pfarrer und landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt. © medio.tv/Christian Schauderna

Aber wie funktionieren Prävention und Aufarbeitung in diesem Kontext eigentlich? Und wie positioniert sich die Landeskirche zu dem Vorwurf eines anderen Betroffenen, der bereits vor mehr als zehn Jahren an die Öffentlichkeit habe gehen wollen, seitens der Kirche aber nicht genug passiert sei? Wir sprachen darüber mit Thomas Zippert, Pfarrer und Landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt bei der EKKW.

Herr Dr. Zippert, ist sexueller Missbrauch in Kirchen noch ein Tabuthema?

Ja, das ist es. Weil es gesellschaftlich auch immer noch ein Tabuthema ist. Wir und andere alte Institutionen mussten erst einen Umgang damit lernen. Es ist im Übrigen für Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, ein Thema, das mit viel Angst, Scham und Ohnmacht verbunden ist. Wenn es öffentlich wird, weckt das die alten Dämonen und reißt alte Wunden wieder auf. Einige Betroffene wollen sich daher selbst schützen. Wege an die Öffentlichkeit können von Betroffenen auch als Übergriff empfunden werden, sie müssen gut mit ihnen zusammen überlegt werden.

Es gibt einen Landeskirchlichen Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt, nämlich Sie. Zeigt diese Stelle, dass Kirche ein Problem hat?

Das zeigt es. Es zeigt aber auch, dass wir uns damit auseinandersetzen. Man braucht eine Person, die sich des Themas annimmt, die Impulse setzt. Eine Person, die das, was Betroffene brauchen, an einer Stelle zusammenführt.

Fühlten Sie sich in einer traurigen Annahme bestätigt, als Sie von den Taten erfahren haben?

Leider ja. Betroffene leiden unter solchen Vorfällen ein Leben lang und das darf man keinesfalls unterschätzen. Es ist ein Thema, das Biografien verdunkelt. Vor allem ist es traurig, dass wir uns immer daran erinnern müssen, dass es noch mehr Betroffene gibt, als wir es bislang wissen. Wir möchten sie ermutigen, sich zu melden.

Sind Sie früh genug mit dem Thema an die Öffentlichkeit gegangen?

Für die Betroffenen war der Zeitpunkt bestimmt zu spät. Bei einer solch alten Institution wie der Kirche zeigt sich in der Umsetzung der Aufarbeitung sicherlich der gleiche Widerstand wie fast überall in der Gesellschaft. Wie gesagt: Wir müssen den Umgang damit erst lernen.

Ein Betroffener, der angibt, in den 60er-Jahren sexuell missbraucht worden zu sein, findet, dass das Thema zu spät öffentlich geworden ist.

Wir haben uns die Geschichte des Betroffenen noch einmal angeschaut. Dass er sich noch mehr Unterstützung seitens der Kirche gewünscht hat, kann ich sehr gut nachvollziehen. Als wir etwa vor zehn Jahren von dem Fall erfahren haben, gab es erste Schritte an die Öffentlichkeit. Die Kirche hat dafür gesorgt, dass dieser Fall den Weg zur Staatsanwaltschaft gefunden hat. Man hat nur die juristische Bearbeitung gestartet. Andere Wege kannte man nicht, die Strukturen fehlten noch. Wir haben sehr lange gebraucht, um herauszufinden, welchen Weg wir als Kirche gehen können, um sexuelle Übergriffe aufarbeiten zu können. Aufarbeiten heißt, Geschehenes anzuerkennen und sich der Verantwortung für die Betroffenen zu stellen.

Der Betroffene kritisiert, dass er nicht auf Leistungen der Kirche hingewiesen worden ist.

Das kann ich gut verstehen. Die unabhängige Kommission, die Betroffene begleitet und beispielsweise über Anerkennungsleistungen entscheidet, gibt es in der EKKW erst seit 2019. Es gibt freilich keinen Weg, wie diese Information die Betroffenen erreichen kann. Wir haben mit dem Betroffenen jetzt noch einmal Kontakt aufgenommen. Außerdem werden wir uns die Fälle – es ist gut möglich, dass es weitere in dieser Zeit gegeben hat – noch einmal ganz genau anschauen.

Prävention, Transparenz, Anerkennung – das sind sperrige Begriffe. Wie kann Kirche sie umsetzen?

Prävention bedeutet, dass jede Kirchengemeinde eine Risikoanalyse machen muss. Wo könnten sich Täter zurückziehen? Wo sind dunkle Ecken, mögliche Tatorte? Gibt es Veranstaltungssettings, die eine Gefahr darstellen. Der Begriff Transparenz beschreibt die Bereitschaft, offen mit dem Thema umzugehen. Und bei der Anerkennung ist wichtig, zu betonen, dass diese keine Entschädigung ist. Anerkennungsleitungen sind nichts, was den sexuellen Übergriff und seine Folgen ungeschehen machen könnte.

Zur Person

Dr. Thomas Zippert (61) ist Landeskirchlicher Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt. Er war von 2011 bis 2018 Professor für Diakoniewissenschaft an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Davor leitete er die Hephata-Akademie für soziale Berufe und war er fünf Jahre Gemeindepfarrer. 1995 war Zippert an der Gründung der ersten nordhessischen Systeme zur Notfallseelsorge beteiligt.

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