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Flüchtling für einen Tag: Studenten simulieren Flucht vor Krieg und Terror

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Von: Jan-Frederik Wendt

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Fragen: Bijan Otmischi half Marielena Berger bei der Orientierung in der Unterkunft.
Fragen: Bijan Otmischi half Marielena Berger bei der Orientierung in der Unterkunft. © Jan Wendt

Ein Gefühl von Angst und Verlust: Studenten der CVJM-Hochschule nahmen fremde Identitäten an und verbrachten einen Tag und eine Nacht in der Flüchtlingsunterkunft Bergshausen.

Mitten in die Stille der Nacht gellt ein Schrei. Es ist 5 Uhr in der Früh. 30 Menschen liegen in engen Schlafboxen in der Flüchtlingsunterkunft Bergshausen nebeneinander. Sie haben nur wenige Stunden geschlafen. Aber Steffen Schmidt nimmt keine Rücksicht und schreit weiter. Der Student will nach Schweden. Doch Bijan Otmischi versperrt ihm den Weg nach draußen.

Der Integrationsmanager vom Landkreis Kassel kennt Szenen wie diese. Seit Jahren ist er in Flüchtlingsunterkünften unterwegs. Normalerweise versucht er, geflüchtete Menschen an Arbeitgeber zu vermitteln. Heute hat er eine andere Aufgabe: Er leitet mit seinen Kollegen ein Planspiel für Studenten der Religions- und Gemeindepädagogik/Soziale Arbeit der CVJM-Hochschule Kassel.

Die 70 Teilnehmer schlüpfen für einen Tag und eine Nacht in die Rolle von Geflüchteten, die in Notunterkünften ankommen. „Wir wollen die Ängste der Geflüchteten für die Studenten etwas greifbar machen. Sie sollen für das spätere Berufsleben sensibilisiert werden“, erklärt Otmischi.

Bevor die Studenten in die Unterkunft einzogen, bekamen sie jeweils eine eigene Flüchtlingsidentität. Manche Spieler ahmen geflüchtete Christen aus der Zentralafrikanischen Republik nach. Andere simulieren die verzweifelte Suche afghanischer Eltern nach ihren Kindern. Schmidt spielt einen iranischen Professor, der von einer deutschen Unterkunft weiter nach Schweden will. Die Reise wird ihm von deutschen Behörden verweigert.

Schwere Last: Emily Maßfeller (von links), Meryem Karahamza und Jacqueline Klose brauchten für das Rollenspiel viel Gepäck.
Schwere Last: Emily Maßfeller (von links), Meryem Karahamza und Jacqueline Klose brauchten für das Rollenspiel viel Gepäck. © Jan Wendt

Paula Viehweg hingegen versetzt sich in die Lage einer homosexuellen Afrikanerin. Sie sitzt kerzengerade auf einem Plastikstuhl. Ihre Hände liegen auf ihren Beinen. Sie atmet schwer. Circa 20 Meter hinter ihr warten mehrere Teilnehmer in einer Reihe. Vor Viehweg sitzen Ruben Ullrich und Carolin Buchholz. Die beiden spielen Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Sie fragen Viehweg, warum die junge Frau ihre Heimat verließ.

Vor der Befragung musste Viehweg fast eine Stunde warten. Denn die Afrikaner werden im Planspiel bewusst benachteiligt behandelt. „Durch ungleiche Behandlungen wollen wir Wut bei den Teilnehmern entwickeln. Sie sollen neidisch aufeinander werden“, sagt Lilli Wiebe als Modulverantwortliche von der CVJM-Hochschule. Und der Plan geht auf. „Das lange Warten ist echt frustrierend“, meint Viehweg.

Dieses Problem hat Leonie Preck nicht. Die Studentin spielt eine Türkin. Sie werden bevorzugt behandelt. Die junge Frau hockt auf einem Flurboden. Vor ihr öffnet sich eine Tür. Kirstin Paul und Hannah Wezel bitten sie ins Büro. Die Landkreis-Mitarbeiterinnen reichen der Studentin einen Tee. Auch ein Keks wird ihr angeboten. Preck lehnt ab.

Gesundheitscheck: Dirk Kaiser untersucht Eva Masjosthusmann auf ansteckende Krankheiten. Die Studenten wurden während des Planspiels auch gewogen.
Gesundheitscheck: Dirk Kaiser untersucht Eva Masjosthusmann auf ansteckende Krankheiten. Die Studenten wurden während des Planspiels auch gewogen. © Jan Wendt

Paul und Wezel reden auf die geflüchtete Frau aus Ankara ein. Sie müsse einen Zettel unterschreiben, damit die Ärzte in der Unterkunft sie versorgen könnten. „Wir brauchen ihre Erlaubnis, um ihnen helfen zu können“, sagt Wezel. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Bei dem Dokument handelt es sich um eine Generalvollmacht – unter anderem für das gesamte Vermögen der Flüchtlinge.

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Preck kann das Schriftstück nicht entziffern. Denn auf dem Blatt Papier stehen nur persische Buchstaben. Nach kurzem Zögern setzt sie ihre Unterschrift unter die Vollmacht. „Nur drei Studenten haben überhaupt nachgefragt, was sie da unterzeichnen“, sagt Paul.

Preck fühlt sich ausgeliefert. „Ich habe keine Ahnung, was passiert. Das ist eine krasse Situation“, sagt die Studentin. Zwar könne sie die Gefühle der Geflüchteten durch das Planspiel nicht richtig nachempfinden. „Aber ich werde für die Ängste der Menschen in Not schon sensibilisiert.“

Amir Khali kann wohl am besten beurteilen, wie realitätsnah das Spiel die realen Situationen von Flüchtlingen simuliert. Anfang 2016 flüchtete er aus dem Iran. Der Grund: Der 30-Jährige lebt mit einer Frau zusammen, die mit einem anderen Mann verheiratet ist. Beiden droht im Iran die Todesstrafe. Deswegen will er auch seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen.

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Er schildert den Studenten seine Flucht, die fast ein Jahr dauerte. Die Route führte den Iraner gemeinsam mit seiner Freundin über die Türkei. Sie überquerten das Mittelmeer nach Griechenland in einem Schlauchboot. „Wir wussten oft nicht, was passiert und was auf uns zukommt“, sagt er. Schlepper brachten das Liebespaar mit 30 anderen Menschen über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland. „Wir hatten manchmal tagelang nichts zu essen“, erklärt Khali. Heute lebt das Paar in Fuldabrück.

Während der Flucht mussten sie Polizeikontrollen und Stacheldrahtzäune überwinden. Ihr ständiger Begleiter: die Angst. Das könnten die Studenten durch die Simulation nicht nachfühlen, sagt Khali: „Aber ich finde gut, dass ihr es versucht.“

Auch Schmidt spielt seine Rolle so authentisch, wie er kann. „Das Planspiel hilft mir dabei, die Schicksale von Geflüchteten besser emotional nachvollziehen zu können und eben nicht nur rein intellektuell zu verstehen“, sagt er. Die Flucht nach Schweden gelingt ihm letztlich nicht. Das Planspiel endet mit seinem Fluchtversuch. Nach einer Reflexionsrunde fahren die Studenten zur Hochschule. Auf dem Lehrplan steht die nächste Vorlesung. Das Thema: Menschenrechte.

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