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„Es war eine Art Gehirnwäsche“: Wie ein Betroffener in Fuldatal die Übergriffe des Pfarrers erlebte

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Von: Valerie Schaub

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Teilweise hinter verschlossenen Türen hat ein Pfarrer in Fuldatal in den 80er-Jahren Jugendliche sexuell missbraucht.
Teilweise hinter verschlossenen Türen hat ein Pfarrer in Fuldatal in den 80er-Jahren Jugendliche sexuell missbraucht. © Naskami/Panthermedia

Jahrelang hat sich ein früherer Fuldataler Pfarrer an Jugendlichen vergangen. Vor Kurzem hat die Kirche den Missbrauch aus den 80er-Jahren öffentlich gemacht. Möglich war das, weil ein Betroffener ausgesagt hat.

Fuldatal – Was in den Jugendräumen, bei dem Pfarrer zu Hause oder auf Freizeiten passiert ist, hat Markus lange nicht mit dem Wort Missbrauch verbunden. Heute ist dem Betroffenen klar, wie manipulativ der Täter vorging. Und, dass er nicht der einzige Betroffene war. „Die Geschichte muss öffentlich verhandelt werden.“ Deshalb will er seine erzählen.

Markus’ Erzählungen beginnen in den 80er-Jahren. Er ist 14, gerade konfirmiert und engagiert sich in der Kirchengemeinde in Ihringshausen mit anderen als Konfihelfer. Seinen Namen haben wir zu seinem Schutz geändert.

Der Pfarrer habe ein freundschaftliches Verhältnis und Vertrauen zu den Jugendlichen aufgebaut. „Er hat uns zum Tee eingeladen, es lief atmosphärische Musik von Simon & Garfunkel oder Supertramp.“ Allein sprechen sie mit dem Pfarrer über Privates, auch über Liebesgeschichten. Er mischt sich ein, fragt, für welches Mädchen Markus sich interessiert.

„Das lief alles unter Seelsorge.“ Es sei nicht so gewesen, dass ein Betreuer einfach unvermittelt nachts unter die Bettdecke gegriffen habe. Markus erzählt vielmehr von dem Gefühl, plötzlich mit einem Erwachsenen auf Augenhöhe zu sein. Als 14-Jähriger empfindet er das als große Ehre. Wer von dem Pfarrer eingeladen wurde, gehörte zum „auserlesenen Kreis, es war wie ein Ritterschlag“.

Zum ersten sexuellen Übergriff kommt es, als der Pfarrer mit Markus alleine für ein paar Tage in Urlaub fährt. In der Unterkunft ist nur ein Zimmer gebucht, es gibt nur ein Bett. Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, für das, was passiert ist. Der Täter zwingt ihn zu nichts, ringt ihm nichts ab, erklärt Markus. Er versichert ihm, nichts geschehe, ohne dass er es nicht auch wolle. Dass es ein Ausdruck von Freundschaft sei. Als Erwachsener wird Markus erfahren, dass viele sexuelle Missbrauchsfälle ähnlich ablaufen.

Unabhängige Kommission der Kirche und Kontaktmöglichkeiten für Betroffene sexualisierter Gewalt

Eine 2019 gegründete unabhängige Kommission hilft der EKKW bei der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt. Ihr gehören ein Richter im Ruhestand, eine Trauma-Therapeutin und eine beratungserfahrene Fachkraft an. Zwei Juristen prüfen derzeit im Auftrag der EKKW alle bekannten Altfälle rechtlich.

Kontakt: Betroffene können sich an die Kommission wenden unter anerkennungskommission@ekkw.de. Zudem steht Pröpstin Katrin Wienold-Hocke als Ansprechperson bereit, katrin.wienold-hocke@ekkw.de.

Nicht-kirchliche Anlaufstellen sind unabhängige Fachberatungsstellen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, in der Region Kassel zum Beispiel fax-kassel.de oder die Kasseler Hilfe unter kasseler-hilfe.de

Als Jugendlicher aber hat er das Gefühl, sich selbst für alles entschieden zu haben. Erst viel später wird ihm klar, dass es psychologische Gewalt war. „Man ist ein manipuliertes Opfer.“

Markus nennt es „eine Art Gehirnwäsche“, die soweit ging, dass es sich für den Jugendlichen richtig anfühlt, was passiert. „Du weißt ja, dass du mich in der Hand hast.“ An diesen Satz des Pfarrers erinnert er sich noch genau. „Ich habe sogar gedacht, ich kann ihn schützen.“

Es sind Gedanken, die viele Betroffene haben. Sie denken, sie tragen eine Mitschuld. Sie denken, auch sie hätten etwas davon gehabt, sagt Markus. Auch ihm gehe es manchmal noch so.

Bis er etwa 19 Jahre alt ist, kommt es immer wieder zu Übergriffen, auch auf Freunde, wie er später erfährt. Damals spricht Markus nicht darüber, mit niemandem. Der Pfarrer lässt ihm im Glauben, er sei der Einzige.

„Der Status des Täters war magisch“, sagt Markus. Er beschreibt den Pfarrer damals als beliebt, als nahbar. Als einen tollen Seelsorger. Er habe sich sein ganzes Umfeld gefügig gemacht. „Nur wenige Eltern waren skeptisch“, sagt Markus.

20 Jahre später erst, als Markus schon lange nicht mehr in Fuldatal lebt, wird ihm langsam klar, was damals passiert ist: Als ein Coach von Missbrauch spricht, trifft ihn das. Als er zur Polizei geht, schickt man ihn weg, er brauche Beweise und einen Anwalt.

Wieder 20 Jahre später erfährt Markus von der Kommission der Kirche, die solche Fälle aufarbeiten will. Er stellt einen Antrag, schreibt das Geschehene auf 15 Seiten nieder und spricht das erste Mal mit einer Traumatherapeutin. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so eine Erleichterung ist.“ Mit seiner Aussage macht die Evangelische Kirche Kurhessen Waldeck (EKKW) den Missbrauch vierzig Jahre später öffentlich. Strafrechtlich ist der Fall verjährt. Die Evangelische Kirche leitet ein Disziplinarverfahren gegen den Mann ein, der mittlerweile nicht mehr in Fuldatal lebt. Er wird verurteilt, darf nicht mehr taufen und trauen und verliert seine Bezüge.

Das alles und die Auseinandersetzung in der Kommission geben Markus emotionale Klarheit. Er weiß jetzt, was damals gut war, und was nicht. „Das ist ein Riesenstein, der von meiner Seele rollt.“ Es ist nicht länger seine Privatsache, wie er lange angenommen hatte.

Abgeschlossen sein wird das Geschehene für ihn nie. Aber es helfe, darüber zu sprechen. Viele seiner damaligen Freunde, die er nach seiner Aussage angerufen hat, sagten: „Endlich! Endlich macht’s einer.“

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