„Wir spüren Eure Anteilnahme“: Bürgermeisterin von Bertinoro über Flutkatastrophe in Norditalien
Eine verheerende Hochwasserkatastrophe in Norditalien fordert Menschenleben und verwüstet Städte. Gessica Allegni, Bürgermeisterin der Kaufunger Partnergemeinde Bertinoro, spricht im Interview über die Folgen der Flut.
Kaufungen/Bertinoro – Der norditalienische Ort Bertinoro ist als „Balkon der Romagna“ eigentlich für seine besondere Lage bekannt: Der Ortskern liegt auf einem Hügel, von dem aus sich ein malerischer Blick über Weinreben und Kornfelder bis hin zur 20 Kilometer entfernten Adriaküste bietet. Doch gerade diese Lage wurde den Einwohnern Bertinoros nun zum Verhängnis.
Seit etwa einer Woche sind große Teile der Partnergemeinde Kaufungens – wie weite Gebiete der gesamten Region Emilia-Romagna – überschwemmt. Auch auf Straßen der beliebten Reisestädte Bologna, Ravenna, Cesena und Forlì steht noch immer das Wasser. Bisher forderte die Hochwasserkatastrophe 16 Menschenleben, zahlreiche Personen werden noch immer vermisst.

Interview mit Bürgermeisterin von Kaufungens Partnergemeine Bertinoro über Flutkatastrophe in Norditalien

Wir sprachen mit Bertinoros Bürgermeisterin Gessica Allegni am Telefon über die Folgen der Flut und die Sorgen der Betroffenen.
Zur Person
Gessica Allegni ist seit Oktober 2021 Bürgermeisterin von Bertinoro. Zuvor war die studierte Kommunikationswissenschaftlerin bereits in diversen Funktionen für die Stadtverwaltung tätig. Die 40-Jährige ist Gründerin der Mitte-links-Bürgerliste „Insieme per Bertinoro“. (rdg)
Frau Allegni, wie ist die Lage bei Ihnen in Bertinoro zurzeit?
Wir haben die Situation mittlerweile zu großen Teilen unter Kontrolle. Teile der Stadt und des Umlands sind jedoch noch immer überschwemmt. Durch die Stärke der Wassermassen gab es in unserer Gemeinde etwa 50 Erdrutsche. Einige wichtige Straßen sind deswegen noch immer nicht befahrbar. Stromleitungen sind beschädigt, Häuser unbewohnbar. Unsere freiwilligen Helfer und die Kameraden von der Feuerwehr und dem Katastrophenschutz kämpfen permanent gegen das Wasser und den Schlamm. Glücklicherweise wurde bei uns niemand verletzt, allerdings mussten 30 Personen evakuiert werden.

Wie hoch schätzen Sie die Schäden in Folge der Überschwemmungen?
Das ist momentan noch sehr schwer zu sagen, wir sind jedoch aktuell dabei, eine ausführliche Analyse zu erstellen. Vorläufige Schätzungen gehen bisher von Schäden in Höhe von mindestens vier Millionen Euro aus.
Welchen Einfluss hat das Unglück auf die Bürger Bertinoros?
Die Auswirkungen sind natürlich vielfältig, konkret bekomme ich am meisten von den wirtschaftlichen und emotionalen Folgen auf unsere Bevölkerung mit. Aus wirtschaftlicher Sicht war die Lage zuvor schon angespannt – die Corona-Pandemie und der Krieg haben die Preise von Energie, Mieten und Lebensmittel deutlich ansteigen lassen. Da fehlte uns nur noch das Hochwasser. Einige Familien sind nun besonders betroffenen, besonders die in den eher flacheren Zonen der Stadt. Das ist für unsere lokale Wirtschaft besonders bitter, dort sitzen die meisten größeren Unternehmen und die Landwirte. Immerhin ist Wein unser wichtiges Exportgut und am Agrarsektor hängen viele Arbeitsplätze. Die Regierung hat nun Hilfen versprochen und das Kabinett erwägt vorübergehende Steuererleichterungen. Mittel aus dem EU-Solidaritätsfonds für Naturkatastrophen werden beantragt. Auf emotionaler Ebene spüre ich die Angst und Sorgen der Menschen. Einige von ihnen können vorübergehend nicht in ihren Häusern wohnen, andere haben ihre Ernte verloren.

Wie reagieren die Bürger auf die Flut?
Entschieden und vereint. Ich bin stolz auf die schnelle Reaktion meiner Mitbürger; jeder der kann, packt mit an. Die Menschen helfen sich gegenseitig. Wo möglich, räumen sie Straßen und Plätze, pumpen Wasser aus Kellern und reparieren Leitungen.
Wie kann man Ihnen jetzt in der Not helfen?
Vor allem mit Nähe und falls möglich mit finanzieller Unterstützung. Vor Ort sind bereits zahlreiche freiwillige Helfer im Einsatz, aber auch die müssen versorgt werden. Auch müssen wir unsere Infrastruktur schnellstmöglich wiederherstellen. Wir kümmern uns um die Familien in Not, müssen dafür aber Verpflegung und Alltagsgegenstände wie Betten und Decken kaufen.

Die Gemeinde Kaufungen ruft zu Spenden auf. Wie nehmen Sie das auf?
Wir sind den Kaufungern sehr dankbar für ihre Unterstützung. Bürgermeister Arnim Roß hat sich gleich am Anfang der heftigen Unwetter bei mir gemeldet und Hilfe angeboten. Wir freuen uns über jede Spende, weil daran menschliche Schicksale hängen. Generell ist unsere Beziehung zu Kaufungen eng und geht über eine normale Städtepartnerschaft weit hinaus. Erst kürzlich waren Kinder und Jugendliche aus Nordhessen im Rahmen des Austauschprogrammes unserer Musikschulen bei uns zu Gast. Sie sind uns immer herzlich willkommen. Wir spüren Eure Anteilnahme und Solidarität – das ist das schöne Gesicht und der Sinn eines vereinten Europas.
Weitere Informationen zur Spendenaktion der Gemeinde Kaufungen finden Sie hier.
Ein Städtchen in der Nähe der Adriaküste
Die ersten Spuren menschlicher Siedlungen im Gebiet von Bertinoro reichen bis zur Bronzezeit zurück. Heute hat der Ort 11 040 Einwohner, liegt in der Provinz Forlì-Cesena der norditalienischen Region Emilia-Romagna zwischen dem Apennin-Gebirge und der Adriaküste. Partnergemeinden sind Kaufungen und Ale in Schweden. Eine Autostunde entfernt sind Bologna und Rimini. Bertinoro ist bekannt für seine Weine. (rdg)