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Missbrauch in der Landeskirche: Betroffener übt Kritik an Aufarbeitung

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Von: Daria Neu, Valerie Schaub

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Der Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche ist ein sensibles Thema. Ein Betroffener wünscht sich dabei mehr Eigeninitiative vonseiten der Kirche. Archi
Der Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche ist ein sensibles Thema. Ein Betroffener wünscht sich dabei mehr Eigeninitiative vonseiten der Kirche. Archi © Friso Gentsch/DPA

In der Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck gab es in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe. Jetzt kritisiert ein Betroffner die Aufarbeitung der Kirche.

Kreis Kassel – Seit einigen Monaten ist bekannt, dass es auch in der Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe gab – im Raum Wesertal und in Fuldatal. Sowohl die Kirche als auch Betroffene sowie Experten haben sich dazu gegenüber unserer Zeitung positioniert.

Jetzt gibt es Kritik an der Aufarbeitung der Kirche – von einem Betroffenen. Der landeskirchliche Koordinator zum Thema sexualisierte Gewalt stimmt der Kritik teilweise zu. Hintergründe in Fragen und Antworten.

Was genau kritisieren der Betroffene Hans und Koordinator Thomas Zippert am aktuellen Umgang der Kirchen?

Hans, dessen Name wir geändert haben, fehlt nach eigenen Angaben eine ernsthafte Aufarbeitung seiner traumatischen Erlebnisse in den 60er-Jahren, als ein Jugenddiakon im Raum Wesertal sexuelle Übergriffe an ihm verübt hat. Er fordert mehr Eigeninitiative. Kirche habe einen „großen Werkzeugkasten“. Es gehe um Übernahme von Verantwortung. Zum Beispiel könne man Kontaktformulare für Betroffene und Mitwissende erstellen und den Kirchenvorstand in jeder Gemeinde zum Gespräch bitten.

Er verstehe, dass Betroffene den bisherigen Umgang der Landeskirche mit sexuellen Missbrauchsfällen als zögerlich wahrnehmen, sagt Thomas Zippert. Das, was bislang angeboten werde, sei noch nicht ausreichend.

Was sagt die Bischöfin dazu?

„Unser Koordinator hat klargestellt, dass unsere Kirche einen längeren und mühsamen Lernprozess durchläuft“, teilt Bischöfin Beate Hofmann mit. Die wunden Punkte habe er vor der Landessynode klar benannt. „Er kritisiert uns zurecht als lernende Institution.“ Es müsse über das gesprochen werden, was im Verantwortungsbereich der Kirche geschah und betroffenenorientiert gehandelt werden. „Wir wissen, dass dieser Weg lange noch nicht zu Ende ist.“

Was passiert konkret, wenn ein Betroffener oder ein Mitarbeiter sich an die Kirche wendet?

Sowohl Betroffene als auch kirchliche Mitarbeiter, die von Fällen erfahren, können sich an die landeskirchliche Meldestelle wenden, die derzeit Thomas Zippert koordiniert. Ein Krisenstab entscheidet über weitere Schritte: Ist Gefahr im Verzug? Müssen Strafermittlungsbehörden und/oder das Jugendamt eingeschaltet werden? Ist ein Disziplinarverfahren einzuleiten? So erklärt es die Pressestelle der EKKW. Es werde geschaut: Welchen Schutz, welche Unterstützung brauchen Betroffene? „Wir tun unser Möglichstes, um aufzuklären, damit Betroffene gehört werden und zu ihrem Recht kommen.“

Welche Rolle spielt die Kommission?

Die Landeskirche hat 2019 eine Kommission einberufen. Sie besteht aus drei Mitgliedern: ein Richter im Ruhestand, eine Trauma-Therapeutin und die frühere Leiterin von Pro Familia. Sie arbeiten von der Kirche unabhängig und bisher nur auf Wunsch von Betroffenen. Es gibt laut Pressestelle aber Überlegungen, das initiativer zu gestalten. Die Kirche verweist Betroffene immer auch an die Kommission.

Was, wenn Fälle strafrechtlich nicht mehr belangt werden können?

Im Falle eine Verjährung von Straftaten kann diejenige Kirche, bei dem der Täter zuletzt angestellt war, ein Disziplinarverfahren einleiten. Das kann auch Mitarbeitern oder Vorgesetzten gelten, die weggeschaut oder Fälle vertuscht haben, erklärt Anja Berens von der EKKW-Pressestelle. Ein kirchliches Disziplinargericht ist mit weltlichen Juristen besetzt, die ehrenamtlich arbeiten. In der Regel sind das Richter.

Wie läuft ein Disziplinarverfahren ab?

Darin sagen Betroffene als Zeugen aus und Beschuldigte werden angehört. Am Ende wird entschieden, ob der Fall als erwiesen angesehen wird und was das für Betroffene und Täter bedeutet. Im bekannten Fuldataler Fall hieß das: Der Betroffene darf nicht mehr für die Kirche arbeiten und bekommt keine Bezüge. In den vergangenen dreieinhalb Jahren hat die Kirche in bisher acht von elf Fällen insgesamt knapp 240 000 Euro Anerkennungsleistung an Betroffene ausgezahlt.

Wie viel Personal hat die EKKW für das Thema?

Neben der Kommission gibt es grundsätzlich drei Hauptamtliche, darunter Pfarrer Thomas Zippert, die sich innerkirchlich um das Thema kümmern und beispielsweise Schulungen für Pfarrer und Mitarbeiter organisieren.

Reicht das?

Seit den Schulungen werden laut Prälat Burkhard zur Nieden mehr Verdachtsfälle gemeldet, es gebe auch mehr Beratungsfragen. Auch deshalb will die EKKW die Koordinationsstelle neu aufstellen und aufstocken – mit einem Mann und einer Frau, die keine Pfarrstelle haben. Thomas Zippert hatte die Stelle nur für die befristete Projektphase inne, die jetzt endet.

Von einem Betroffenen gibt es Kritik. Welche Erfahrungen haben andere gemacht?

Ein Betroffener im Fuldataler Fall erklärt unserer Zeitung, dass er sich von der Betreuung der Kommission gut aufgehoben gefühlt habe. In seinem Fall hat die Evangelische Kirche auch ein Disziplinarverfahren geführt. Dabei hätte er sich gewünscht, anfangs engmaschiger über den aktuellen Stand informiert worden zu sein. „Es ist eher eine Frage des Gefühls, das einem vermittelt wird.“ Es brauche ein Klima, das Betroffene wissen lässt: „Fürchtet euch nicht, es wird für euch gesorgt. Wir wissen, dass es anstrengend ist, aber wir kümmern uns.“ Das und Vertrauen herzustellen, ist aus seiner Sicht entscheidend. Denn die Beschäftigung mit dem Geschehenen sei „aufwühlend genug“. Er sagt aber auch: Wie die Betreuung ist, fällt und steht mit den Menschen, die die Posten ausfüllen.

Wo sieht die Kirche selbst Grenzen bei der Aufarbeitung?

Thomas Zippert betont im Abschlussbericht, dass es beim Aufklären Netzwerkarbeit mit Fachleuten aus dem Arbeitsfeld braucht. Zum Beispiel mit Polizei und Staatsanwaltschaft, Jugendkoordination der Polizei vor Ort und Fachberatungsstellen. (Daria Neu und Valerie Schaub)

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